Macht: Thriller (German Edition)
Ein Schauder rieselte die Wirbelsäule hinunter. Schritte. Eine Tür ging auf und zu.
Moosbrugger verschränkte die Arme und rieb sich die Oberarme. Sie schielte erst auf die Bürotür, dann auf das Telefon auf ihrem Schreibtisch. Sollte sie den Nachtportier verständigen? Den Sicherheitsdienst rufen? Nein, die blöden Kerle hätten nur wieder was zu lachen. Geisterjagd mit der Moosbrugger! Sie schürzte die Lippen. Wenn es ein Kollege aus einer anderen Abteilung gewesen ist, der wie sie Überstunden schob, machte sie sich bloß wieder zum Gespött des ganzen Hauses. »Hallooo?!« Moosbrugger schlüpfte auf den Gang hinaus. »Hallo? Ist da jemand?«
Der Aufzug hielt im Stiegenhaus. Die Schiebetüren öffneten und schlossen sich. Die Kabine fuhr nach unten.
Moosbrugger stürzte aus der Abteilung und starrte in den Aufzugsschacht. Die Kabine blieb beim Zugang zu den Ausstellungssälen stehen. Die Tür ging auf. Schritte.
»Hallo?«, rief Moosbrugger in den Aufzugschacht. »Also, so geht das wirklich nicht! – Wer ist da?« Sie umfasste ihren Schlüsselbund und lief die Treppen nach unten. »Jetzt wird es mir langsam zu bunt! Wenn das ein Scherz sein soll, dann finde ich ihn nicht lustig!«
Moosbrugger setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und betrat den Ausstellungsbereich. Das Licht der Scheinwerfer vorbeifahrender Autos wanderte über die Vitrinen und Stuckdecken. Die Glasaugen der Tierpräparate leuchteten auf. Glanzlichter strichen über Spirituspräparate. Die Schatten der Vogel- und Tierskelette tanzten als der Geisterreigen des Wayang-Kulit über die Saalwände, als makabre Gestalten des indonesischen Schattentheaters. Eine Silhouette trübte für einen Moment den Glanz des Parketts am Durchgang zum nächsten Saal. »Hallo?« Moosbrugger hastete durch die Saalfluchten. »Ist da jemand?«
Moosbrugger lief an den Skeletten des neuseeländischen Riesenlaufvogels Moa und dem Modell der Weltumseglungsfregatte Novara vorbei und blieb unter dem Deckengemälde Hans Canons stehen. Sie beugte sich über die Balustrade und spähte auf den Halbstock mit dem Kaiserporträt und auf die Stiegen hinunter. Die Stufenkanten zeichneten Schlangen an die Wände, die mit aufgestelltem Rückenkamm zu ihr nach oben krochen. In der Aula brannte Licht. Die Nachtwache. Moosbrugger knetete sich den Nacken. Alles wie gehabt. Sie sollte zurück in ihr Büro gehen, den Tee trinken. Bestimmt war er schon ausgekühlt und eiskalt. Von wegen süß und heiß! Und die ganze Sache schnell vergessen. Bestimmt war es nur einer von der Security auf Rundgang gewesen.
Moosbrugger eilte über die Lichtkarrees der Hoffenster auf dem Fußboden hinüber in die Kuppelhalle. Die Leguane in den Terrarien hoben die Köpfe. Schildkröten plumpsten ins Wasser. Unter dem Gewölbe der Kuppelpfeiler war es stockdunkel. Sie tastete sich an die Aufzugtür heran, drehte den Schlüssel im Schloss unter den Aufzugknöpfen und drückte nach dem Lift. Sie drehte sich um, linste in alle Richtungen und marschierte vor dem Aufzug auf und ab. Moosbrugger umarmte sich selbst und rieb sich die Oberarme. Sie durfte jetzt nicht daran denken, dass die anthropologische und archäologische Sammlung des Hauses der zweitgrößte Friedhof der Stadt waren. Zu spät. Schon passiert.
Der Schein der Straßenbeleuchtung auf dem Maria-Theresien-Platz fiel durch die Fassadenfenster. Die Stuckatur in der Kuppel und die Kunstmarmorpilaster an den Pfeilern verloren sich in der Dunkelheit. Die Stühle und Marmortischchen des Café Nautilus warfen lange Schatten auf den schwarz-weiß gemusterten Steinfußboden. Die Spinnenkrabbe in der Vitrine reckte die präparierten Scheren. Das Modell der Xaifa , des Schiffes von Tauchpionier Hans Hass, schwebte mit schlaffen Segeln in der Luft. Männerabsätze überquerten den Steinfußboden.
Moosbrugger stockte der Atem. Die Silhouette aus dem Ausstellungssaal huschte durch den Bogen gegenüber und verschmolz mit dem Schatten des nächsten Kuppelpfeilers. Sie wich zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Kunstmarmor. »Schluss jetzt mit dem Unsinn! – Robert, bist du das? – Hör auf damit! Das ist NICHT witzig!« Moosbrugger horchte und klapperte mit den Zähnen. Wer auch immer der schlanke Schatten war, es war nicht Robert. Der gutmütige rundliche Robert hätte den Schabernack längst aufgelöst. Moosbrugger brach der Schweiß aus. Sie lugte zum Lichtschein im Stiegenaufgang. Bis zum Foyer war es nicht weit. Nicht alleine zurück
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