Macht: Thriller (German Edition)
bringen und aktuelle Nachrichten und Verkehrsservice zu liefern. »Ich bin wach!«
»Das freut mich. Ich auch.« Aiakos drehte das Autoradio ab.
Der Asphalt der A23, der Wiener Südosttangente, glänzte im Licht der Straßenlaterne und Abblendlichter. Die Donau wälzte sich schwarz und breit durch Wien, der Strom teilte die Lichter und Silhouetten der Stadt. An einem Ufer überragte die Baustelle der DC Towers die Wohn- und Bürotürme der Skyline, am anderen der Stephansdom die Kuppeln und Dächer. Autos überholten links und – unfassbar – auch rechts.
Aiakos betätigte den Blinker, drehte am Lenkrad und wechselte die Spur. Das Aufleuchten der Lichthupen in den Rückspiegeln ignorierte er. Er kniff die Augen zusammen und fühlte Sand unter den Lidern. Jeder Scheinwerferstrahl bohrte sich wie eine Nadel in die Pupillen. Er veränderte den Winkel des Innenspiegels und kontrollierte die Anzeige des Navigationsgeräts.
Der Pfeil wanderte zielstrebig über die rote Linie in der Karte. Es waren nur noch ein paar Minuten bis zur eingegebenen Adresse, dem letzten Termin für heute.
» Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan «, murmelte Aiakos und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er freute sich auf den Besuch.
50
D as Faksimile des Voynich-Manuskriptes lag aufgeschlagen auf dem Couchtisch. Josephine begleitete mit dem Zeigefinger das blau gemalte Wasser. Zwei Quellen entsprangen links und rechts oben aus den Zapfen oder Blütendolden. Die beiden vereinten sich und flossen durch Steckrohre zur Blattmitte. Die Leitung mündete in das erste von zwei Becken. Sieben nackte Frauen mit gewölbten Bäuchen saßen oder wateten durch das graugrüne Nass. Die Härchen an Josephines Unterarmen richteten sich auf. »Gernot? – Wo bleibst du denn?« Josephine reckte den Hals und horchte in die Wohnung.
Gernot rumorte im Küchenschrank, klapperte mit Tassen und Unterschalen. »Komme gleich!« Die Eiskastentür ging auf und zu. Flüssigkeit gluckerte aus einem Tetra Pak . Teelöffel klirrten.
Josephine schnalzte mit der Zunge, lehnte sich zurück und sackte in die Kissen ab. Sie war sich ganz sicher, sie hatte Udo heute in Gabriels Büro laut und vernehmbar »Die sieben Töchter der Eva« sagen gehört. Udo hatte auf die Illustration mit den Schwangeren im Bad geblickt und die Worte ausgerufen.
Gernot, mit nacktem Oberkörper, barfuß und in Jeans stellte zwei Tassen Kaffee, ein Kännchen Milch und eine Zuckerdose auf den Tisch.
»Wow, was für ein Service. Danke!« Josephine spitzte die Lippen, pustete und nahm einen Schluck. Das Koffein weckte ihre Lebensgeister. »Hui, ich fühle mich bei dir wie im Hotel Adlon. – Vorsicht, mein Lieber, verwöhne mich nicht zu sehr. Sonst wirst du mich am Ende nicht mehr los.« Sie zwinkerte.
» Service is our success. Noblesse oblige «, antwortete Gernot und schmunzelte. Er fläzte sich Josephine gegenüber auf das Sofa und schob sich ein Kissen unter den Nacken. »Das ist ja der Zweck der Übung, dass du dich bei mir wie zuhause fühlst. – Gekommen, um zu bleiben, wäre das nicht eine Idee?«
Josephine schlug die Beine übereinander, schob eine Haarsträhne hinters Ohr und richtete den Blick auf die Teppichfransen. Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Sie grinste und glühte jetzt bestimmt wie ein frischlackiertes Schaukelpferd. Was zum Teufel war bloß los mit ihr? Sie benahm sich albern wie eine Fünfzehnjährige. Zurück zum Wesentlichen, aber hurtig. »Das, hier, das ist bemerkenswert!« Sie tippte auf das Voynich-Manuskript. Die Stimme versagte, Josephine musste sich räuspern. »Die Schriftzeichen bedeuten nichts, davon bin ich restlos überzeugt. Die Botschaft des Buches ist nicht in dem Text verschlüsselt, sie steckt in den Bildern!«
Szombathy setzte sich auf, betrachtete die illuminierte Manuskriptseite und zog die Brauen nach oben. »Aha!« In seinen Augen sahen die Damen in den Zubern wie jede andere Miniatur des fünfzehnten Jahrhunderts aus. Er konnte nicht nachvollziehen, was an den nackigen Weibern und den Rohrleitungen derartiges Aufsehen verdiente. Seiner Ansicht nach waren die Szenerien und Figuren weit weniger kunstvoll als zum Beispiel jene im Très Riches Heures, dem Stundenbuch des Duc de Berry. Im direkten Vergleich mit den ungefähr gleichaltrigen Kalenderblättern von der Hand der Brüder von Limburg erschienen die Abbildungen im Voynich-Manuskript plump, linkisch und hässlich.
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