Macht: Thriller (German Edition)
Für die Fantasiesprache Lingua ignota , die im 12. Jahrhundert von Hildegard von Bingen erfunden worden ist, gibt es eine Wörterliste von rund tausend Phantasiewörtern, durchweg Substantiven, mit beigefügten lateinischen und deutschen Äquivalenten. In einer sachlichen Gruppierung in Kirchliches, Kalendarisches, Hauswirtschaftliches und Naturkundliches. Das Voynich-Manuskript gibt sich zwar exakt diesen Anschein, doch es steckt nichts dahinter. Außer einer Camouflage natürlich. – Aber im Laufe der Geschichte waren einige Herrscher von der Ursprache geradezu besessen. Herodot erzählt von einem ägyptischen Pharao des siebten Jahrhunderts vor Christus, der Neugeborene zu Versuchszwecken in einer Hütte isoliert hat, um herauszufinden, welches Volk der Welt das älteste sei und welche Sprache die Kinder frei von jeder Beeinflussung gebrauchen würden. Diese Worte sollten dann die Ursprache sein.«
»Und?«
»Naja, gemäß der Überlieferung riefen die Kinder das phrygische Wort für Brot. Was aber schon Herodot eher für eine Ausgeburt des Hungers gehalten hat. Das Umfeld der Hütte wurde von phrygischen Feldarbeitern bestellt. Das hat den Stauferkaiser Friedrich II. allerdings nicht davon abgehalten, den Versuch im 12. Jahrhundert zu wiederholen. Mit tödlichem Ausgang für alle Neugeborenen.«
»Da hab ich davon gelesen, ja.« Szombathy senkte den Kopf und rieb sich die Oberarme. »Die armen Babys sind ohne Ansprache und Körperkontakt alle gestorben.«
Josephine zog die Brauen zusammen und nickte. »Aber was ist, wenn ich für das Experiment Kinder als Probanden heranziehe, die keinen Körperkontakt brauchen? Die jeden sozialen Kontakt ablehnen und mit Panik und Abwehr darauf reagieren? Die Menschen im Mittelalter waren ja nicht blöder als wir, nur weil sie länger tot sind.« Sie warf Gernot einen düsteren Blick zu. »Was wenn jemand das Problem mit den fehlenden Liebkosungen gelöst hat, und Mädchen und Buben wie Lilly für den Versuch genommen hat? Und das Voynich-Manuskript ist das Resultat?«
»Entwicklungsgestörte Kinder wie Lilly als Urheber der Bilder im Voynich-Manuskript?!« Szombathy schluckte.
Josephine hatte Recht, aus einer veränderten Perspektive begann sich eine Spur abzuzeichnen, der Gabriel in sein Verderben gefolgt sein könnte. Gernot schloss die Augen. Einmal mehr die Unruh im Uhrwerk des Verstandes. Sie hatte Gabriel vorwärtsgepeitscht, einer Antwort auf der Frage nach dem Sinn entgegen, dem Tod in die Arme. Gernot öffnete die Augen und rupfte seinen Bart. »OK, als Entstehungsort des Voynich-Manuskriptes nimmt man Norditalien an, hat uns jedenfalls Udo erläutert. Italien passt perfekt zu dem Stauferkaiser. Trotzdem liegen zwischen dem Experiment von Friedrich II., dem Voynich-Manuskript und dem Großen Turmbau von Bruegel ein paar Jahrhunderte.«
Josephine griff nach Gernots iPad. »O Google unser, erleuchte uns.« Ihre Finger tanzten über den Touchscreen. Plötzlich hielt sie inne und zog die Mundwinkel nach unten. »Jakob IV., 1473 bis 1513, König der Schotten, ließ zwei Kinder von einer stummen Frau auf einer Insel aufziehen. – Auch eine Lösung für das Problem der sterbenden Säuglinge, und nicht die dümmste. Eine Mutter für die beiden Testpersonen, die zwar herzen, aber nicht sprechen konnte. Hier steht, der Chronist Robert Lindsay von Pitscottie berichtet: Manche sagen, sie – die Kinder – hätten gut Hebräisch gesprochen, aber was mich betrifft, so habe ich hiervon nur durch Hörensagen Kenntnis . OK, das heißt: Die Ursprache ist bis ins sechzehnte Jahrhundert in Süd- und Nordeuropa ein Thema. Im achtzehnten Jahrhundert widmen sich Rousseau, Herder und Hamann dem Thema. Und im neunzehnten springt Humboldt auf den Zug auf.«
»Pneumatologie!« Szombathy schlug sich auf die Stirn und stierte auf die Aufbewahrungsbox. »Wir haben Gabriels Schachtel im Versteck hinter der Pneumatologie gefunden, Josi! Und ich dachte immer, das wäre ein Witz von Gabriel, der sich bloß auf die geistigen Getränke, auf die Spirituosen, hinter den Büchern bezogen hat. Dabei hat viel mehr dahinter gesteckt als Schnaps. Und das im wahrsten Sinne des Wortes!«
Josephine ließ das iPad sinken. »Jetzt hast du mich abgehängt, mein Lieber.«
»Das Pfingstwunder, Josi.« Gernot rieb sich die Hände und tippte sich an die Schläfe. »Die Apostelgeschichte des Neuen Testaments berichtet, dass sich der Heilige Geist auf Maria und die Apostel gesenkt hat. In Jerusalem, am
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