Macht: Thriller (German Edition)
gezeichnet? – Und ich bitte dich, gib mir etwas Zeitgenössisches, etwas das in die Entstehungszeit des Manuskriptes passt. Eine Symbolsprache, die ein Mensch des Mittelalters verstehen kann. Jemand, der noch nie etwas von Urmüttern und von mitochondrieller DNA gehört hat.« Er machte eine einladende Handbewegung und plumpste in die Kissen zurück.
»Erinnerst du dich an das, was Ian vor dem Großen Turmbau über Zahlenmagie gesagt hat? Warum der Turm neun und nicht acht Stockwerke haben muss, damit das Gemälde die richtige Botschaft vermittelt?«
»Nein!« Gernot schloss die Augen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er war Ian Thorpe im Kunsthistorischen nicht an den Lippen gehangen, hatte die Worte nicht von seinem Mund getrunken als wären sie Nektar und Ambrosia gewesen. Er beäugte Josephine. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, wie Thorpe um Josi herumscharwenzelte.
Josephine runzelte die Stirne. Klang Gernots Stimme gerade irgendwie feindselig? Sie unterdrückte ein Lachen, als sie das Aufblitzen in den dunklen Pupillen vis-à-vis bemerkte. Sie schaute einmal hin, dann wieder weg. War Gernot etwa auf Thorpe eifersüchtig? Josephine saugte die Unterlippe zwischen die Schneidezähne und reorganisierte ihre Gedanken. »In der christlich-jüdischen Zahlenmystik ist die Sieben der Schöpfung zugeordnet, weil Gott, der Herr, in sieben Tagen die Welt erschaffen hat.« Sie zog den Bademantel enger und winkelte die Beine an. »Im Neuen Testament ist mit Gott Sohn eine neue Schöpfung angebrochen, der achte Tag. Alles, was in der alten nicht so toll gelaufen ist, wird nach dem Weltgericht grade gerückt. Die Herrschaft der Gerechten bricht an. Die goldene Stadt, das Himmlische Jerusalem, ist zwar laut der Schrift im Viereck angelegt, trotzdem ist die Zahl der neuen Schöpfung die Acht. Bedeutende Sakralbauten und Kultobjekte des christlichen Mittelalters sind deshalb achteckig. Die Pfalzkapelle von Aachen, das Castel del Monte in Apulien, die Krone des Heiligen Römischen Reiches …«
Gernot hob die Rechte, die Linke massierte seine Nasenwurzel. »Danke, ich habe es kapiert. Sieben-Acht-Neun: Das Leben fließt, die Menschheit wächst heran und wird Schritt für Schritt veredelt. Aus der ursprünglichen und fehlerhaften Schöpfung entwickelt sich eine geläuterte und makellose.«
» Yes !« Ein Lächeln strahlte in Josephines Gesicht. Gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Dass das zweite Becken nicht voller Badender gemalt worden ist, kann allerdings auch noch einen anderen Grund haben: Den Leuten damals ist durchaus bewusst gewesen, dass ihre Zahl durch Seuchen, Krieg und Abwanderung ständig dezimiert worden ist. Alleine zur Zeit der Pest verödeten ganze Stadtviertel und Landstriche. Der Tod war allgegenwärtig. Aber trotzdem ist die Bevölkerung stetig gewachsen. Langsam und kontinuierlich.« Josephine drückte das Kinn zwischen ihre Knie. »Ja. – Ich denke, so könnte es funktionieren: Die Illustration leitet uns zum Anfang der Menschheit zurück, zu ihrem Ursprung und zu ihrer Fortpflanzung. Aber in welchem Moment der Menschwerdung sollen wir stehenbleiben und unsere Fragen stellen?« Sie führte die Tasse zum Mund, setzte sie ohne zu trinken wieder ab und hielt sie in den Händen.
Gernot setzte sich auf und wuschelte durch seine Haare. »Das Wasser ist ein Element, das alles durchdringt. Steter Tropfen höhlt den Stein, sagt man. Wasser verbindet. Anders ausgedrückt: es kommuniziert. Gabriel hat das Voynich-Manuskript mit dem Turmbau zu Babel verlinkt. In der Zeit, als König Nimrod den Turm bauen lässt, sind alle Menschen noch durch eine Sprache verbunden. Diese Sprache ist das Wasser, das durch sie hindurchfließt, der Kitt, der sie zusammenhält und am Leben hält. Ihre Community wächst, nichts scheint ihnen unmöglich. Sie haben unbegrenzte Macht. Jetzt kommt die Neun ins Spiel, die Zahl der Macht, der Hybris und des Untergangs …«
»Die Ursprache …« Josephine schlüpfte zurück in die Hausschuhe und richtete sich auf. »Wotruba hat doch in Gabriels Büro heraus posaunt, die Bilder in dem Buch erinnern ihn an Kinderzeichnungen. – Ich bin jetzt wieder mal Udo, aber was, wenn es wirklich Kinderzeichnungen sind?«
»Und die nichtentzifferbaren Chiffren die Ursprache? Nee, das ist wirklich zu viel Udo.« Szombathy zog die Brauen nach oben und kratzte sich am Hinterkopf.
»Aber nein!« Josephine machte ein strenges Gesicht und winkte ab. »Der Code ist sinnlose Schablonenmalerei.
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