Macht: Thriller (German Edition)
Hausnummer.
Diesmal hatte er mehr Glück, oder besser gesagt, er folgte der richtigen Eingebung. Er suchte keinen Juwelierladen mehr, sondern las die Namen an der Gegensprechanlage. Gernot drückte auf »Pogitsch«. Es summte und die Tür ging auf.
Die Haustür fiel mit einem satten Klack hinter Szombathy ins Schloss und sperrte den Straßenlärm des sechsten Bezirks fast vollständig aus. Im Haus war es kühl, beinahe kalt, die Decke des Flurs tonnengewölbt und mit Ornamenten verziert. Gernot durchquerte das Halbdunkel und schwang die geätzten Glasflügeltüren zum Stiegenhaus auf. Kellergeruch, bunte Zementfliesen, steinerne Treppen und gusseiserne Geländer nahmen ihn in Empfang. Das Holz der Handläufe war so alt und abgegriffen, dass es aussah und sich anfühlte wie versteinert und poliert. In den Halbstöcken hingen die metallenen Wasserbecken in Muschelform, die Bassenas, an denen sich die Nachbarn zu den berühmt berüchtigten Bassenagesprächen getroffen hatten, früher, bevor jeder Haushalt an das Wasserleitungsnetz angeschlossen worden war. Fast schien es Gernot, als wäre er durch ein Zeitloch gefallen.
Die Kameralinse über der Türglocke von Herrn Pogitsch im ersten Stock, der Belle Etage, weckte Gernot aus seinen Fantasien. Er war mitnichten im neunzehnten Jahrhundert, sondern immer noch im einundzwanzigsten. Gernot spürte deutlich, ohne ersichtlichen Beweis, dass ihn Pogitsch von oben bis unten begutachtete, bevor er den Türöffner betätigte.
Gernot hatte die Prüfung des einäugigen Schwellendämons bestanden und betrat eine Welt aus Fischgrätparkett und hohen verschlossenen Türen. Vitrinen voller Goldschmuck und historischen Tafelaufsätzen begrüßten den Besucher und bezeugten die Kunstfertigkeit ihres Besitzers. Radierungen und Kupferstiche schmückten die Wände mit Brokattapete. Ein Kristallluster und die dazu passenden Wandappliken zauberten Glanzlichter auf edles Metall und geschliffene Steine. Szombathy witzelte im Stillen, endlich dem alten Hagen von Tronje auf die Schliche gekommen und den Hort der Nibelungen in Wien-Mariahilf gefunden zu haben.
Die Flügeltür am Ende der Werkschau wurde geöffnet. Pogitsch, ein Mittsechziger, breitschultrig und etwas untergroß, mit zwei hellwachen Augen und einem Backenbart in Kaiser-Franz-Joseph-Manier, nahm Gernot in Empfang. Der Meister trug einen weißen, hüftlangen Arbeitsmantel, der ihn in Gernots Augen entweder wie einen US-amerikanischen Friseur in den Fünfzigerjahren oder wie einen Fechtlehrer aussehen ließ. Kräftige, fast quadratische Hände ragten aus den einfachen Ärmelmanschetten. Die Haut an Fingern und Handrücken war von der Arbeit mit Gold und Edelsteinen gegerbt. Der Händedruck des Goldschmieds war entsprechend hart, rau und trocken. Nicht Hagen, sondern Alberich, den König der Nibelungen, hatte er aus seiner Mine aufgescheucht.
»Schön, dass Sie mich gefunden haben«, sagte Pogitsch und vermittelte glaubhaft den Eindruck, es zu meinen.
»Danke. Das war gar nicht so leicht«, antwortete Gernot und rieb sich die schmerzenden Fingerknöchel.
»Genau, wie ich es haben will.« Pogitsch bat Gernot mit einer einladenden Handbewegung in die Werkstatt und bot ihm einen Armstuhl aus gebogenem Holz an. Der Goldschmied wartete, bis sich Gernot hingesetzt hatte, dann nahm er auf der anderen Seite der Tischvitrine Platz, die Pogitsch für Kundengespräche und als Schreibtisch nutzte. Die Vitrine teilte den Raum zwischen Werkstücken, Arbeitsgerät und Gästen. Plastikkugelschreiber mit den Namen von Banken und Versicherungen lagen zwischen vollgeschriebenen Notizblättern und Geschäftsblöcken herum. Unter der Glasplatte alias der Schreib-und Verkaufsfläche glänzten Broschen, Ringe und Taschenuhren.
Gernot begriff rasch, dass nur Eingeweihte diese Grenze überqueren durften. Er hegte auch nicht den Wunsch, sie zu übertreten, er fühlte sich auf seiner Seite der Tischvitrine gut aufgehoben und bewunderte das herrschende kreative Chaos auf der anderen. Das organisch wirkende Gewirr aus Schläuchen, Schleifmaschinen, Bohrern und züngelnden Flämmchen, das die Werkstatt beseelte. Unter den Tischplatten waren Auffangtücher gespannt, so dass kein Stein und kein Gran Gold verloren gehen konnte. Genauso hatte sich Gernot immer das Laboratorium eines Alchimisten vorgestellt, der auf der Jagd nach dem Stein der Weisen Tag und Nacht schuftete, winzige Feuerdämonen auf der Schulter und in den Glaskolben. Kleine Papierbeutel mit
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