Macht: Thriller (German Edition)
lief. Sie ertappte sich bei dem Versuch, an den flatternden Sakkoschößen vorbei einen Blick auf Gernots knackige Pobacken zu erhaschen. Ein kurioser Tagesbeginn, dachte Josephine und zog sich am Handlauf weiter.
Dank Sabines Diplomatie war es gestern allen Differenzen zum Trotz ein gemütlicher Abend geworden, die Freunde sind erst frühmorgens gegangen. Kurz vor Morgengrauen, der Silberstreif am Horizont war schon vor den Fenstern zu sehen, hatte Gernot Dieter in ein Taxi gewuchtet, das Wohnzimmer aufgeräumt und Josephine in sein Schlafzimmer geschickt. Josephine hatte die Schokolade auf ihrem Kissen genascht und war in das frischbezogene Bettzeug gesunken. Sie schlief die ganze Restnacht durch und war erst von Gernots Frühstücksvorbereitungen geweckt worden. Die andere Seite des Doppelbettes war unberührt geblieben, Gernot musste wie ein echter Gentleman auf der Couch übernachtet haben. Josephine rieb sich den Schlaf aus den Augen und raffte sich hoch, um nach ihrem Gastgeber zu sehen. Rasiert, geduscht und in Jeans und weißem Hemd traf sie Szombathy in der Küche an. Im Esszimmer stand ein kontinentales Frühstück samt kernweichem Ei für sie bereit. Gernot hielt es nur mit Mühe auf seinem Sessel, er fuhr sich ständig durch die Haare und seine Frühstückszigarette zerfiel auf dem Aschenbecherrand zu Asche. Kaum hatte Josephine den letzten Bissen heruntergeschluckt, scheuchte er sie auch schon ins Bad und drängte zum Aufbruch. In Sakko und Schuhen wartete er auf dem Flur wie der menschgewordene Vorwurf, bis sich Josephine den Mantel übergeworfen und ihre Handtasche umgeschnallt hatte. Kaum eine halbe Stunde später saßen sie in der U6 nach Mariahilf.
Endlich war Josephine im ersten Stock des alten Zinshauses angekommen. Sie blickte sich nach Gernot um und blieb am Treppenkopf stehen. Etwas an seiner Körpersprache machte ihr Angst.
Gernot verharrte vor der Wohnungstür und betastete vorsichtig das Türschloss. Die Eingangstür war angelehnt. Das passte so gar nicht mit Gernots gestrigen Erfahrungen mit den Sicherheitsvorkehrungen des Goldschmieds zusammen. »Herr Pogitsch?« Vorsichtig stieß Szombathy die Türe auf. »Herr Pogitsch?«, rief er etwas lauter in die Wohnung. Keine Antwort.
Josephine nahm Gernot am Arm. »Was ist denn?«
Gernot schüttelte den Kopf und machte einen Schritt in das Vorzimmer. »Herr Pogitsch? Sind Sie da? Hier ist Szombathy, Sie wissen schon, wegen des …« Gernot erstarrte und machte einen Satz zurück.
»Was ist denn?« Josephine wollte an Gernot vorbei, aber er stieß sie zurück. »Hey, was soll das?«, herrschte sie Gernot an, aber ihre Erregung wich sofort einem gehörigen Schreck. Sein Gesicht war kreidebleich, und sein Mund bewegte sich lautlos auf und zu.
»Tot!« Gernot fuhr sich über das Gesicht und deutete in die Wohnung. »Tot«, wiederholte er. Dann fuhr er herum und stürzte in das Vorzimmer. Wenn der Goldschmied tot war, wer zum Teufel hatte sie unten hinein gelassen?
Josephine war hin- und hergerissen. Sollte sie Gernot hinterher, egal, was sie da drinnen erwartete, oder weglaufen? Sie entschied sich für Gernot. Das war ein Fehler. Ein toter Mann hing kopfüber von der Decke. Josephine presste sich die Hände auf den Mund und begann zu taumeln. Im nächsten Moment fiel die Tür zu, und ein Schlüsselbund drehte sich im Schloss. Josephine rüttelte an der Türschnalle und trommelte mit den Fäusten gegen das Holz. Zu spät. Sie waren eingeschlossen.
Josephine presste sich gegen die Wand und tastete sich der offenen Werkstatttür entgegen. »Gernot? Gernot, wo bist du? Lass mich nicht alleine!« Josephine stockte der Atem. Sie stieß im Halbdunkel gegen eine Glasvitrine und hörte helles metallisches Klappern. Josephine blickte hoch und erkannte kostbare Preziosen und Tafelaufsätze. Die Vitrinen ringsum waren voll davon. Gold, Silber und edle Steine, wohin das Auge reichte. Die Ausstellung war unberührt. Raub war nicht das Mordmotiv. Aber was dann? Josephine befiel eine unheimliche Gewissheit und sie zitterte am ganzen Körper. Sie musste von dem toten Goldschmied weg, seine Nähe war nicht eine Sekunde länger zu ertragen. Aber die Leiche hing direkt vor ihr, und die Vitrine in ihrem Rücken versperrte ihr den Weg. Um das Hindernis zu umgehen, musste sie sich zu einem Schritt auf die Leiche zu zwingen.
Josephine holte tief Luft und machte einen Satz auf das Licht zu. Der Kristallluster klimperte, das Seil knarzte. Josephine schloss die
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