Macht: Thriller (German Edition)
Augen. Sie ahnte, ihre Landung auf dem Fischgrätparkett hatte den Gehängten in Schwingung versetzt. Langsam drehte sie sich um öffnete die Lider. Der Tote lächelte sie an, blass und bleich. Er wirkte völlig blutleer. Es war widerlich.
Josephine fasste sich ein Herz und trat näher heran. Der Ermordete pendelte über einem Goldgefäß, gefüllt mit dunkler Flüssigkeit. Sie ging auf die Zehenspitzen und beugte sich nach vorne. Gestocktes Blut! Der figurengeschmückte Kessel war mit dem Blut aus der Halswunde des Opfers vollgelaufen. Enormer Druck hämmerte augenblicklich gegen Josephines Kehlkopf, ihr Magen verkrampfte sich, und sie übergab sich, wo sie gerade stand. Mehrere Wellen schüttelten ihren Körper durch, bis sie schließlich rückwärts in die Werkstatt taumelte und zu Boden ging.
Gernot fasste die Gestürzte unter den Achseln und zog sie auf die Beine. Josephine schlug um sich und versuchte, sich seinem Zugriff zu entwinden. Gernot fing ihre Fäuste und presste sie an seine Brust. »Ruhig, ganz ruhig, ich bin es«, flüsterte er und streichelte ihren Hinterkopf.
Josephine erschlaffte und begann zu schluchzen. »Es tut mir leid! Es kam so plötzlich über mich. Ich konnte es nicht zurückhalten.«
»Dafür brauchst du dich nicht zu schämen. Mir ging es genauso.« Gernot erblickte die Postkarte auf dem Besucherstuhl und erstarrte. Das Bild, den Großen Turmbau , hatte er schon gesehen. Nicht nur im Kunsthistorischen Museum, sondern auf einem Poster in Gabriels Büro. »Wir sind eingeschlossen!«, drängte sich Josephines Stimme zurück in sein Bewusstsein. »Bitte?« Gernot löste seinen Blick von dem Polstersessel. Er war wie auf Speed, oder einer anderen Droge. Alles um ihn herum lag im Nebel, nichts an diesem Ort schien real und in sein Leben zu passen. Genau! Das war überhaupt nicht sein Leben. Alles nur eine Fantasie, ein Traum. Josephine rüttelte an seinem Sakko.
»Was tun wir jetzt?«, drängte sie. »Ich rufe jetzt die Polizei!«
»Nein, warte.« Gernot legte die Postkarte auf die Tischvitrine und setzte Josephine auf den Sessel. »Ich hab eine bessere Idee.« Er fischte sein iPhone aus der Tasche und drückte eine Kurzwahl. »Ernstel? Bitte, du musst mir helfen. Die Scheiße steht mir bis zum Hals«, keuchte er in das Telefon. »Was soll das heißen, du hast keine Zeit? – Dein Termin ist mir scheißegal, hier hängt ein Toter von der Decke, und Josephine und ich sind mit ihm in seiner Wohnung eingeschlossen!« Gernot verstummte und lief auf und ab wie ein gereizter Tiger. »In zehn Minuten seid Ihr da? Super! – Nein, wir rühren nichts an.« Szombathy blieb wie angewurzelt stehen und ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Verdammt! Wir haben schon den Tatort verändert. Ich hab eine Postkarte angefasst und versetzt. – Nein, sie war nicht an dem Ermordeten. – Wurscht? Gut, das beruhigt mich. Die Adresse ist …«
Gernot legte auf und sondierte die Werkstatt. Sein Blick fiel auf den Papierbeutel auf der Tischvitrine. Auf dem Säckchen standen sein Name und seine Anschrift. Über den Inhalt brauchte er nicht zweimal nachzudenken. »Was tun, sprach Zeus, die Götter sind besoffen«, deklamierte er und rang mit seinem Gewissen. Josephine saß völlig geistesabwesend auf dem Stuhl aus gebogenem Holz, den Blick starr auf den Gehängten im Vorraum gerichtet, die Arme um den Leib gewunden. Sie wippte vor und zurück. Sie würde bestimmt nicht bemerken, wenn Gernot das Papiersäckchen in seiner Tasche verschwinden ließ. Und Wotruba? Der Chefinspektor hatte keine Ahnung von dem Totenkopfring. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß, entschied Szombathy und schlich zur Tischvitrine hinüber. Langsam streckte er seine Hand aus, nur noch wenige Zentimeter trennten seine Fingerkuppen von dem weißen Papier, der Beutel lag zum Greifen nahe. Da packte Josephine Szombathys Hand und drückte sie fest an ihre Wange. Gernot spürte ihre Tränen an seinem Handrücken und wusste, seine Chance war vorbei.
26
C hefinspektor Wotruba steckte seinen Universalschlüssel in das Schlüsselloch über den Knöpfen der Gegensprechanlage und drehte ihn herum. Ein Summen ertönte, die Haustür wurde entriegelt und die Beamten der WEGA stürmten das Stiegenhaus.
Die Sondereinheit der Landespolizeidirektion Wien rückte Meter für Meter in das Hausinnere vor. An jeder Kehre und vor jedem Treppenansatz positionierten sich Maskierte in Schutzwesten und Helmen, die Glock 17 oder ein Steyr StG 77 im
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