Machtkampf
Blickkontakt zum anderen. Auch Sander wusste nichts mit dieser Frage anzufangen. Staatsanwalt Schwehr versuchte, die peinliche Situation zu retten: »Weil das eine nichts mit dem anderen zu tun hat, müssen wir Sie um Verständnis dafür bitten, dass wir über andere Ermittlungsverfahren an dieser Stelle keine Angaben machen können und dürfen.«
»Es gibt sie also – diese anderen Ermittlungsverfahren«, keifte die Reporterin unzufrieden dazwischen.
»Wie ich sagte«, konterte der Staatsanwalt, »kein Kommentar.«
4
Sandra Kowick war fix und fertig. Eineinhalb quälend lange Stunden hatte die Vernehmung ihres Buben in einem Besprechungszimmer der Polizeidirektion Göppingen gedauert. Der Kinderpsychologe und eine ältere Kriminalistin waren zwar behutsam vorgegangen, doch Manuel hatte sich verstockt und ängstlich gezeigt. Auch mehrere Pausen, während der sie mit ihm allein sein konnte, halfen nicht, seine Schüchternheit zu überwinden. Er kaute an den Fingernägeln, rieb sich oft die Augen und zappelte mit den Beinen. Immer wieder versuchte der Arzt, das Gespräch auf andere Themen zu lenken, um schließlich erneut vorsichtig das zentrale Geschehen anzugehen. Aber Manuel schwieg dann minutenlang, schielte zu seiner Mutter oder spielte mit einem kleinen Rennwagen, den ihm der Psychologe auf den Tisch gestellt hatte.
Jede Nachfrage beantwortete er mit nahezu der gleichen Formulierung: »Er hat mich auf seinen Schoß gehoben und gestreichelt.«
»Wo gestreichelt?«, fragte der Psychologe dann leise nach.
Schweigen.
»Du hattest doch eine kurze Hose an.«
Manuel nickte schüchtern und schob seinen Rennwagen hin und her.
»Dann hat er deine Schenkel gestreichelt«, resümierte der Arzt das bisher Geschilderte. »Wie war das? Hat er sie außen oder innen gestreichelt?«
Manuel zuckte mit den Schultern. »Vorne, innen.« Pause. »Glaub ich.«
»Glaubst du«, wiederholte der Psychologe. »Und was hat er dabei gesagt?«
Manuel hielt seinen Blick starr auf den knallroten Rennwagen gerichtet.
»Was hat er dabei gesagt?« Die Stimme des Arztes war sanft.
»Dass ich … ich ein guter Junge bin.«
»Gut. Und wo waren deine Klassenkameraden?«
»Draußen. Es war doch Pause.«
»Und da hat er dich zu sich hergerufen.«
Manuel nickte eifrig, ohne etwas zu sagen.
»Dann bist du zu ihm vorgegangen. Ist er da gestanden oder gesessen?«
Manuel schwieg.
»Du sagst, er hat dich auf seinen Schoß gehoben.«
»Ja. So war es.«
»Dann muss er auf einem Stuhl gesessen sein. Oder war es anders?«
»So war es.«
Sandra Kowick hatte sich während der Rückfahrt nach Rimmelbach all dies noch einmal in Erinnerung gerufen. Im Innenrückspiegel beobachtete sie, wie Manuel kreidebleich und schweigend im Kindersitz saß und apathisch aus dem Seitenfenster starrte. Wie würde sein Verhalten auf den Psychologen und die Kriminalistin gewirkt haben? Womit war zu rechnen, wenn sie ihm nicht glaubten? Würde sich das Jugendamt einschalten? Welche Auswirkungen konnte dies auf sie als alleinerziehende Mutter haben? Sandra schossen tausend Fragen durch den Kopf. Immerhin war sie nie zuvor mit der Polizei konfrontiert worden. Deshalb hatte sie auch nicht verstanden, was mit der Frage der Kriminalistin gemeint war, ob sie einen ›Opferanwalt‹ einschalten wolle. Sandra hatte verneint, ohne zuzugeben, von solchen Dingen gar keine Ahnung zu haben. Sie wollte nicht noch mehr Staub aufwirbeln, sondern die ganze Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Es war ihr ohnehin unangenehm gewesen, Manuel mit dem vagen Hinweis, er müsse bei der Polizei eine Aussage machen, vom vormittäglichen Schulunterricht befreien zu lassen. Glücklicherweise hatte Schulleiterin Stenzel nicht nachgehakt, sonst hätte sie ihr womöglich sagen müssen, welch folgenschwere Angelegenheit damit in Gang gebracht wurde. Aber vielleicht wusste sie es ohnehin schon.
Sandra hatte in der ziemlich altmodischen Küche des 200 Jahre alten Bauernhauses Spaghetti gekocht, in denen Manuel jetzt allerdings nur lustlos herumstocherte. Ihr Hinweis, er müsse etwas essen und trinken, blieb ungehört. Auch die Frage, wann er seine Hausaufgaben machen wolle, beantwortete er nur mit einem Schulterzucken. Dann klagte er über Bauchschmerzen, verschwand auf der Toilette und kam erst zurück, als Sandra ihn nach zehn Minuten energisch dazu aufforderte. Manuel zog sich in letzter Zeit sehr häufig auf diese Weise zurück – eine Tatsache, die auch den
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