Machtkampf
Fluss kämpft. Sollte er nicht einfach aufgeben und sich von den Fluten abtreiben lassen? Wieder schloss er die Augen – und aus dem Bild des reißenden Flusses wurde ein schneeweißer Zug, der immer größer, immer drohender auf ihn zukam.
»Woran denkst du jetzt?«, hörte er plötzlich Franziskas besorgte Stimme.
»An nichts«, erwiderte er schnell, »an gar nichts. Nein.«
Heiko Mompach hatte den spätabendlichen Kontrollgang über sein Anwesen nicht, wie üblich, seiner Angestellten überlassen. Man konnte in diesen Tagen nie wissen, welchen Gefahren er ausgesetzt war. Seit dem Tod seines einst besten Freundes hatte ihn das ungute Gefühl beschlichen, nun selbst ins Visier eines dubiosen Feindes geraten zu sein. Die Stimmung im Dorf war umgeschlagen und es schien ihm, als würden ihn einige Menschen persönlich für den Tod Hartmanns verantwortlich machen. Denn dass die enge Freundschaft zerbrochen und das Tischtuch zwischen ihnen zerschnitten war, galt längst als offenes Geheimnis. Und seit er in der Asche seiner Feuerstelle verdächtige Fußspuren gesehen hatte, wollte er kein Risiko mehr eingehen. Er musste alles tun, um sich aus der Schusslinie zu nehmen. Alles.
Und dennoch war er nicht davor gefeit, selbst Opfer zu werden.
Er hatte sich deshalb vorgenommen, nächtliche Kontrollgänge zu unternehmen. Als er gegen drei Uhr durch ein verdächtiges Geräusch wach wurde, das sich anhörte, als sei draußen jemand gegen einen Metallgegenstand gestoßen, lauschte er kurz in die Nacht, stellte zufrieden fest, dass seine Frau schlief, und schlich aus dem Schlafzimmer. In der Diele warf er sich einen Mantel über, schlüpfte in Arbeitsschuhe und machte sich durch die Kälte auf den Weg zu Stallungen und Scheune. Denn falls dort jemand herumschlich, würde er ihn persönlich zur Rede stellen wollen. Hier auf seinem Hof hatte niemand etwas zu suchen. Und schon gar nicht in der Nacht. Für einen kurzen Moment überlegte er, ob er seine Jagdwaffe mitnehmen sollte. Dann aber verwarf er den Gedanken, denn sie im Ernstfall einzusetzen, wäre viel zu riskant gewesen. Die gesetzlichen Bestimmungen ließen privaten Schusswaffengebrauch so gut wie gar nicht zu.
Er war davon überzeugt, dass allein schon das Licht der Halogenstrahler an der Außenwand jeden Eindringling aufschrecken würde. Er knipste sie an und erkannte, dass ihr Licht von dichtem Nebel gedämpft wurde. Er schätzte die Sichtweite auf allenfalls zehn Meter. Auch der Lichtstrahl seiner starken LED-Handlampe bohrte sich in eine weißgraue Wand und verlor sich im Nichts der sanft wabernden Nebelschwaden.
Mompach spürte, wie die mit Feuchtigkeit gesättigte Nachtluft den Kragen seines dicken Mantels benetzte. Er schritt an der Scheune entlang, kontrollierte das Tor und die beiden folgenden Türen, drückte Klinken nieder, um festzustellen, dass sich nichts öffnen ließ, und blieb vor der Gebäudekante stehen. Er lauschte in die undurchdringliche Nebelwand. Doch nachdem das Knirschen seiner Tritte auf dem geschotterten Weg verstummt war, umgab ihn eine ungewöhnliche, ja geradezu bedrohliche Stille. Kein einziger Ton drang an sein Ohr. Kein Flugzeug, kein Auto, kein Tier. Der Nebel verschlang nicht nur jedes Licht, sondern auch alle Geräusche. Mompach atmete flach, als habe er Angst, diese geradezu andächtige Stille zu zerstören. Eine halbe Minute hielt er inne, während sich der Strahl seiner Handlampe kegelförmig in die nächtliche Dunkelheit bohrte.
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass dieses Licht wie ein Leuchtfeuer war, das seinen Standort verriet. Falls sich heute Nacht jemand hier draußen herumtrieb, war es für diese Person ein Leichtes, ihm unbemerkt nahe zu kommen.
Mompach löschte die Lampe, sodass nur noch die Außenbeleuchtung an den Gebäuden von oben her in den Nebel hineinstrahlte, aber nicht bis zum Boden reichte.
Mit drei, vier Schritten war er um die Ecke des Gebäudes geeilt, während unter seinen Sohlen wieder der feine Schotter geknirscht hatte. Das vertraute Geräusch kam ihm plötzlich störend, vor allem aber verräterisch vor. Wieder blieb er stehen. Sein Instinkt schlug Alarm. Er zuckte wie elektrisiert zusammen und wagte kaum mehr zu atmen. Denn es schien ihm, als habe das Knirschen nicht gleichzeitig mit dem letzten Schritt, den er getan hatte, aufgehört. Da war für den Bruchteil einer Sekunde später noch etwas gewesen. Wie in einem Film, bei dem die Tonspur nicht synchron zum Geschehen ablief.
Mompach
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