Machtkampf
Herr, und Du gibst Deinen ihre Speise zur rechten Zeit.« Zur rechten Zeit, klang es in seinen Gedanken nach. Er las weiter und hatte Mühe, sich auf den Inhalt der Worte zu konzentrieren: »Niemand kann zwei Herren dienen. Entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den anderen verachten.« Kugler schloss für einen Moment die Augen. Den einen hassen, den anderen lieben, dröhnte es in seinem Gehirn. In Rimmelbach geschah doch nichts anderes. Sie liebten den einen und hassten den anderen. Als er die wässrigen Augen wieder öffnete, hatte er Mühe, den weiteren Verlauf des kleingedruckten Textes zu finden. Die Worte, die er dann las, schreckten ihn geradezu auf. Seine Konzentration war mit einem Schlag wieder da. Denn dieser eine Satz schien für Rimmelbach niedergeschrieben worden zu sein. Für Rimmelbach und all seine machtbesessenen und gierigen Menschen: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.« War das Zufall oder hatte ihm der Himmel dieses Zeichen beschert? Er las den Text noch einmal und wurde wieder hellwach. Er entschied, seine Predigt darauf auszurichten.
Nach einer halben Stunde hatte er bereits eine halbe Bildschirmseite vollgeschrieben: »Die Erde hat uns wieder eine reichliche Ernte beschert. Aber anstatt Gott zu danken, hecheln wir dem Mammon hinterher. Wir Menschen benehmen uns, als sei die Ernte eine Selbstverständlichkeit. Und anstatt das Wunder der Natur, die geheimnisvollen Kräfte der Schöpfung und die wohlgeordnete Systematik zu bestaunen, gehen wir oberflächlich darüber hinweg und tun so, als liege es allein in der Macht von Industrie und Handel, die Regale der Supermärkte zu füllen – als sei alles nur das Ergebnis von Angebot und Nachfrage. Als ließe sich alles betriebswirtschaftlich berechnen und über den börsenorientierten Rohstoffhandel maximaler Gewinn erzielen, egal, unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen in den Ländern der Dritten Welt produziert wird. Doch wir sollten keinesfalls die Augen vor dem verschließen, was um uns herum geschieht. Menschen werden zu Niedrigstlöhnen beschäftigt und ausgebeutet. In der Landwirtschaft werden Tiere nicht wie lebende Kreaturen behandelt, die Schmerzen empfinden und die doch – wie wir alle – Bestandteil der Natur sind.«
Kugler las den Text noch einmal und entschied sich, die folgenden Sätze gleich wieder zu löschen: »Wir müssen uns doch nur umschauen, ganz dicht bei uns. Welchen natürlichen Lebensraum gestehen wir unseren Legehennen zu? Wie viel Sonne und Freiheit haben unsere Milchkühe und die Mastschweine? Wie gehen wir mit den Kreaturen, unseren Mitgeschöpfen, um? Und wie beuten wir, unterstützt von Pestiziden, unser wertvolles, fruchtbares Land aus?«
Dies, so mahnte Kuglers innere Stimme, würde gerade jetzt die Stimmung in diesem ländlichen Albdorf unnötig gegen ihn anheizen. Er entschied sich zum Löschen des Textes, obwohl er sich eigentlich vorgenommen hatte, kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen und sich nicht verbiegen zu lassen.
Aber jetzt durfte er nicht auch noch einen zweiten ›Kriegsschauplatz‹ eröffnen. Er musste sich auf das Wesentliche konzentrieren. Er sah im nachtschwarzen Fenster über dem Schreibtisch sein eigenes Spiegelbild, sein faltiges und müdes Gesicht. Draußen ließ der Nebel keinen einzigen Schimmer einer Straßenlampe zu ihm hereindringen.
Kugler wandte den Blick von der Spiegelung und starrte auf den Bildschirm. Er legte die Finger wieder auf die Tastatur und ersetzte den Hinweis auf eingepferchte Legehennen und gequälte Mastschweine durch eine andere Formulierung: »Doch wir angeblich so zivilisierten Menschen stellen nur das eigene Wohlergehen in den Vordergrund, missachten die Schöpfung und sind auch untereinander zu kalt berechnenden Konkurrenten geworden, die wie in einem großen Monopoly- oder Schachspiel nur darauf bedacht sind, den anderen außer Gefecht zu setzen. Sei es, indem wir ihn wirtschaftlich ruinieren und gnadenlos in die Insolvenz treiben oder ob wir versuchen, mit Worten zu töten. Ein eiskalter Machtkampf.«
Kugler hatte gezögert, das Wort ›töten‹ niederzuschreiben, ließ es aber auch nach wiederholtem Lesen stehen. Er würde an dem Text ohnehin noch einige Male feilen und das Wort, je nach Gemütslage, vielleicht bis Sonntagvormittag wieder streichen.
Kugler wischte mit den Händen über sein Gesicht. Obwohl er sich matt und schlapp fühlte, würden ihn die quälenden Gedanken
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