Machtkampf
verharrte regungslos. Seine Augen suchten hastig diesen unheimlichen schwarz-grauen Vorhang ab, der sich nach oben, zu den Halogenstrahlern, gespensterhaft aufhellte.
Er kniff die Augen zusammen und lauschte. Nichts. Hatte er sich getäuscht?
Er entschied, der Gebäudefront zu folgen. Sollte er schleichen? Möglichst keine Trittgeräusche mehr verursachen? Nein, sagte er sich. Es machte keinen Sinn, denn falls es einen Angreifer gab, konnte er ihm ohnehin nicht ausweichen. Der Unbekannte würde wie ein Phantom aus dem Nichts auftauchen.
Er musste also weitergehen, möglichst schnell. Seine Schritte verrieten Eile. Die Hose streifte an verdorrten Stauden entlang und Dornengestrüpp zerrte am Stoff. Doch in dieses Knacken und Kratzen hatte sich etwas anderes gemischt. Links neben ihm war es wieder gewesen – dieses Knirschen. Mompach blieb abrupt stehen. Viel zu schnell. Denn als er bereits stillstand, knirschte in unmittelbarer Nähe noch ein Schritt. Jetzt hatte er Gewissheit: Da war jemand.
Alle seine Muskeln spannten sich wie bei einem Raubtier, das auf einen Angriff wartete. Mompach starrte in das Dunkel vor sich, ohne eine Silhouette oder eine Bewegung wahrzunehmen. Von Sekunde zu Sekunde potenzierten sich Angst, Schrecken und Wut ins schier Unermessliche. Mompachs Blutdruck stieg, er zitterte am ganzen Körper. Zurück zum Haus war der Weg weit: An der rückwärtigen Stirnseite der Maschinenhalle entlang, dann rechts um die Ecke, der ganzen Länge dieses Gebäudes und der angrenzenden Stallung folgend. Fast 100 Meter, durchzuckte es ihn. Er war hier am weitesten vom Wohnhaus entfernt.
Mompach, der in seinem ganzen Leben niemals öffentlich eine Schwäche eingestanden hatte, war auch jetzt entschlossen, nicht zurückzuweichen. Deshalb war der erste Schock wieder nüchternem Denken gewichen. »Ist da jemand?«, rief er mit einer Stimme, die allerdings nicht so kräftig und entschlossen klang, wie er es von sich selbst gewohnt war. »Ist da jemand?« Er wiederholte es lauter.
Stille. Keine Schritte mehr.
»Bist du feige oder was?« Mompach hatte Mut gefasst. Er behielt die schwarz-graue Masse um sich herum im Auge, stand jetzt mit dem Rücken zur holzverkleideten Fassade.
»Komm her, wenn du mir was zu sagen hast.« Mompach schrie jetzt so laut und energisch er nur konnte. Sein Innerstes hatte die Furcht besiegt und ihm wieder zu dem gewohnt selbstbewussten Auftreten verholfen. Kaum hatte er diese autoritäre Entschlossenheit wiedergefunden, sorgte ein neuerliches undefinierbares Geräusch für einen gewaltigen Adrenalinstoß. Im Bruchteil einer Sekunde zischte etwas auf ihn zu. Irgendein Objekt, ein Schatten aus dem Nichts, auf Augenhöhe. Reflexartig zuckte sein Kopf zur Seite – und gleichzeitig gab es hinter ihm einen Aufprall. Einen dumpfen, satten, aber kräftigen Stoß gegen die Holzverkleidung der Halle.
Mompach war für einen kurzen Moment nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Seine Kehle war trocken. Er brachte keinen Laut heraus.
9
Kugler hatte noch ein Glas Kognak getrunken und sich an seinen Schreibtisch gesetzt. Die digitale Uhr am rechten unteren Rand seines Computerbildschirms zeigte 1.37 Uhr. Nach dem langen Gespräch mit Franziska war er noch kurz vor Mitternacht ein Stück durch den Nebel gegangen und hatte die feucht-kühle Luft in sich aufgesogen. Er hatte es genossen, ungesehen durch die Straßen und Gassen zu gehen, sich den Geruch von Holzfeuern und Schweineställen in die Nase steigen zu lassen und sich der Stille hinzugeben, die allenfalls durch das monotone Rauschen eines Lüftungsgebläses gestört wurde.
Diese Ruhe und innere Besinnung bekräftigten ihn in dem, was Franziska empfohlen hatte – nämlich, sich im Erntedank-Gottesdienst der Gemeinde zu stellen. Doch jetzt, wieder am Computer sitzend, kämpfte er mit jeder Formulierung, suchte krampfhaft nach passenden Worten und verlor sich in einem gedanklichen Labyrinth, das ihn gefangen hielt und immer wieder an das Entsetzliche erinnerte, das unaufhaltsam auf ihn einzustürzen drohte. Wie sollte er in diesem Zustand eine Predigt zuwege bringen? Würde er es überhaupt emotional verkraften, die Worte, falls sie ihm noch einfielen, dann auch auszusprechen? Er blätterte in seinem Kirchenbuch nach der Perikope, die den Predigttext für das diesjährige Erntedankfest vorgab. Jetzt, im Jahr 2013, galt die fünfte von sechs jeweils aufeinanderfolgenden Reihen. Seine müden Augen lasen: »Aller Augen warten auf Dich,
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