Machtkampf
Staatsanwaltschaft. Da war es wieder, dieses Wort, das allein schon dazu angetan war, ihn in Angst und Schrecken zu versetzen. Und mit einem Mal hatte er das Gefühl, dies alles nicht mehr überstehen zu wollen. Von Tag zu Tag spürte er, wie sein einst unbändiger Wille zerbröckelte. Er erschrak über sich selbst.
»Die Dekanin ist nicht sonderlich glücklich, um es mal vorsichtig auszudrücken«, fasste Redaktionsleiter Kauz ein morgendliches Telefongespräch zusammen. Sein Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, wie ernst er diese Feststellung meinte.
Neth, der gerade zur Tür hereingekommen war, nahm’s gelassen. »Haben Sie was anderes erwartet? Jetzt sind wir halt wieder die Bösewichte, weil wir’s publik gemacht haben. Wie immer.«
Sander, der bereits in seinen Monitor vertieft war, drehte sich um. »Ich denke, wir sind unserer Informationspflicht nachgekommen. Bleibt abzuwarten, was die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bringen.« Er hielt es für geboten, sich nicht in die Angelegenheit einzumischen. Schließlich hatte nicht er, sondern Neth darauf gedrängt, sie zu diesem frühen Zeitpunkt zu veröffentlichen. Die Kollegin von radio7 würde über dieses Vorpreschen sicher nicht sehr erfreut sein.
Auch Kauz teilte seine Meinung, vorläufig nicht weiterzubohren. »Oder«, er wandte sich an Sander, wie er das immer tat, wenn möglicherweise komplexe Recherchearbeit anstand, »gibt’s irgendwas Neues, was auf einen Zusammenhang mit diesem dubiosen Selbstmord hindeuten könnte?«
Sander zuckte mit den Schultern. »Angeblich nicht. Das Dorf ist in Aufruhr, aber wenn sich der Pulverdampf verzogen hat, bleibt wahrscheinlich nicht sehr viel mehr übrig als ein Selbstmord, der vermutlich noch in Jahrzehnten Anlass für Verschwörungstheorien gibt. Und die Kerze in der Scheune – mein Gott, das dürfte nicht allzu ernst zu nehmen sein. Vielleicht auch nur ein Dummer-Jungen-Streich von jemandem, der dem Pfarrer was anhängen will.«
Neth grinste überheblich. »Also könnt’s doch einen Zusammenhang geben. Du solltest dich nicht von deinen Bullen einlullen lassen«, sagte er und verteilte damit einen eher kollegialen Seitenhieb gegen Sanders sprichwörtlich guten Beziehungen zur Polizei. »An deiner Stelle würde ich dranbleiben.«
Kauz entschied: »Lassen wir die Sache vorläufig mal ruhen. Wir sollten uns in dieser Phase auch in die Situation des Pfarrers reindenken.«
»Nicht schon wieder den Täter schützen und dabei das Opfer vergessen«, meckerte Neth.
»Noch ist niemand Täter«, fuhr ihm Kauz nun energisch über den Mund, um sofort wieder nachdenklich zu werden: »Ich will vermeiden, dass es wegen uns einen Toten gibt.«
»Einen Toten?« Neth wurde augenblicklich kleinlaut. »Wieso denn Toten?«
Auch Sander sah überrascht zu Kauz, der sich den Dreitagebart kratzte. »Das Gespräch mit der Dekanin war nicht erfreulich. Aber lassen wir’s dabei bewenden.«
Als Häberle am Ortsrand Böhmenkirchs an der Adresse des jungen Russen eintraf, stellte er zufrieden fest, dass dessen roter BMW vor einer Doppelhaushälfte parkte. Ein Cabrio mit Stoffdach, die Karosserie tiefergelegt. Ganz im Stil der jungen Migrantenszene, durchzuckte es den Chefermittler, der sich jedes Mal wunderte, woher die Jugendlichen das Geld für solche Nobelkarossen hatten. Mochten diese zwar alt und gebraucht sein, so verschlangen sie doch im laufenden Unterhalt eine Stange Geld.
Igor jedoch schien finanziell bessergestellt zu sein. Zumindest schloss Häberle dies aus dem Wohnumfeld, das ziemlich gepflegt und gutbürgerlich wirkte. Am Klingelknopf stand nur ein Name: ›Popow‹.
Igor öffnete bereits nach dem ersten Klingeln und wusste sofort, wen er vor sich hatte, obwohl Häberle absichtlich unangekündigt aufgetaucht war. Denn die Erfahrung zeigte, dass Vernehmungen ergiebiger waren, wenn den Betroffenen keine Zeit blieb, sich darauf vorzubereiten. Häberle nahm es deshalb in Kauf, gelegentlich vor verschlossenen Türen zu stehen.
Igor gab sich zwar verwundert, bat aber den Kriminalisten sofort in den hell erleuchteten Flur, in dem es nach Maiglöckchen roch. Vermutlich von Duftstäbchen, dachte Häberle, während er dem jungen Mann in ein modernes Wohnzimmer folgte, das mit klaren Linien bestach und viel Platz für eine weiße Ledersitzgruppe und eine aufgelockerte Schrankwand bot. »Nachdem mich Herr Hartmann angestellt hat, hab ich mich hier eingemietet«, erklärte Igor, der Häberles Verwunderung bemerkt
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