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Machtlos

Machtlos

Titel: Machtlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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Stimmen im Nebenzimmer, die sie geweckt hatten? Sie starrte in die Dunkelheit, desorientiert, einen Kloß der Angst in der Kehle, doch dann spürte sie die weiche Bettwäsche unter ihren Fingern. Der Geruch ihres frisch gewaschenen Haars stieg ihr in die Nase, und mit ihm kam die Erinnerung zurück. Sie tastete nach dem Schalter neben ihrem Bett. Licht erhellte den Raum und vertrieb die Schatten. Durch das Fenster konnte sie über der Alster die ersten Raketen leuchten sehen, die jetzt nach Einbruch der Dunkelheit aufstiegen. Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen, schloss wieder die Augen. Sie war in Hamburg. Zwischen ihr und dem Erlebten der vergangenen Wochen lagen mehrere tausend Kilometer. Alles war vorbei. Sie lebte, atmete, und in wenigen Stunden brach ein neues Jahr an. Sie konnte es noch immer nicht richtig fassen.
    Nachdem Mayer sie allein gelassen hatte, hatte sie sich ausgezogen und war unter die Dusche gestiegen, hatte sich das Wasser über Kopf und Körper laufen lassen und sich gewaschen, bis ihre Haut rot und ihre Finger schrumpelig wurden. Danach hatte sie sich, von Müdigkeit überwältigt, in den Bademantel des Hotels gewickelt ins Bett gelegt und war in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.
    Jetzt hörte sie aus dem Stimmengewirr im Nachbarraum Mayers ruhige Stimme heraus. Die anderen schwiegen, als er sprach. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte, aber allein ihn zu hören, ihn in der Nähe zu wissen, ließ ihr Herz ruhiger schlagen, und sie sah ihn wieder vor sich, in der Hütte in den Bergen, unrasiert und außer Atem, während sich in seinen Augen dieselbe Erleichterung spiegelte, die auch sie bei seinem Anblick empfunden hatte. Bilder ihrer gemeinsamen Flucht spulten sich vor ihrem inneren Auge ab, flüchtige Momente, Berührungen, Gesten …
    Sie schlug die Decke zurück, stand auf und ging zum Fenster. Wenn sie über die Alster nach Nordost blickte, meinte sie fast, ihre Wohnung sehen zu können. Natürlich war es unmöglich, aber sie war so nah. So greifbar plötzlich. Wie viele Kilometer waren es? Zwei, drei? Seltsam, dass sie es nicht wusste. Ob Marc und die Mädchen zu Hause waren? Marc liebte es, Silvester mit Freunden zu feiern, mit allen Ritualen, die dazugehörten, vom Bleigießen bis zum Raketenabschießen. Vielleicht war eine der Raketen, die dort über Winterhude grün, rot und golden in den Nachthimmel stiegen, von ihm? Vielleicht war er gerade jetzt mit den Mädchen rausgegangen, die sich vor Aufregung kreischend in den Hauseingang drückten, wenn er die Zündschnur anzündete und es zu zischen begann. Sie sah ihr Handy auf dem Tisch liegen, neben der Tasche mit ihren Kleidern, die Marc ihr vor Wochen ins Präsidium gebracht hatte. Auch ihre Papiere lagen dort. Ihr Ausweis, ihr Führerschein. Alles, was sie ihr abgenommen hatten. Sie brauchte es nur zusammenzupacken und konnte gehen. Sie musste niemanden um Erlaubnis bitten, niemandem Bescheid geben. Sie war frei. Sie musste nur den Pincode in ihr Handy eingeben, Marcs Nummer wählen, und er würde alles stehen und liegen lassen und sie abholen. Sie zog den Bademantel enger um ihren Körper und machte einen Schritt vom Fenster weg auf den Tisch zu. Betrachtete die Kleidungsstücke in der Tasche und nahm sie schließlich eins nach dem anderen heraus. Warum nur fühlten sie sich so fremd an, als wären es gar nicht die ihren? Sie ließ den Bademantel auf den Boden fallen und zog wahllos etwas an. Unterwäsche, Pullover, Jeans. Die Hose war zu weit und schlotterte um ihre Hüften. Der Pullover kratzte auf der Haut. Sie zog ihn wieder aus und streifte stattdessen ein Kapuzenshirt über. Dabei fiel ihr Blick auf ihre schmutzige Kleidung auf dem Boden, die sie einfach dort hatte liegen lassen, so wie sie sie ausgezogen hatte, und bei ihrem Anblick dachte sie plötzlich an Martinez, hörte seine Stimme.
    Geh!
Sah seine sich verengenden Augen und den Revolver, der im Sonnenlicht blitzte …
    Die plötzliche Stille im Nachbarzimmer brachte sie in die Gegenwart zurück. Die Uhr neben dem Bett zeigte kurz vor neun. Sie starrte auf die Tür, die die Zimmer miteinander verband, ging langsam darauf zu und ließ ihre Finger über das glatte Holz gleiten. Als sie klopfte, kam keine Reaktion.
    Wenn ich fort muss, sage ich Ihnen Bescheid.
    Sie klopfte noch einmal, dann drehte sie den Knauf. Die Tür sprang auf. Mayer stand am Fenster und blickte über die Alster, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben.
    »Eric?«
    Mit

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