Machtlos
lauern, konnte aber auch längst jenseits der Stadtgrenzen verschwunden sein.
Der Bürgermeister war beliebt in der Stadt, seit mehr als einem Jahrzehnt an der Regierung und bekannt für einen konservativen Führungsstil. Die Menschen raunten einander zu, als sie ihn sahen. Er winkte kurz in die Runde, bevor er sich das blonde Haar glatt strich und vor die Kameras trat. Es fielen Standardfloskeln wie »lückenlose Aufklärung« und »Sicherheit der Bevölkerung an erster Stelle«, es ging um »Solidarität mit den Opfern« und den »Kampf gegen den Terror« und natürlich um »den Wiederaufbau als Zeichen hanseatischen Stolzes«. Er sagte, was alle Politiker auf der Welt in solchen Situationen sagten. Er vermittelte Trost und das Gefühl, dass sie alles im Griff hatten, gab jedoch nichts preis. Ein, vielleicht auch zwei Tage würden sie mit dieser Taktik überleben. Dann würde die Öffentlichkeit Ergebnisse fordern oder sie zerreißen. Das wusste auch der Bürgermeister dort draußen, der zum Abschied noch einmal die Hand hob. Er würde ihnen im Nacken sitzen.
* * *
Das metallische Klicken des Schlüssels weckte Valerie aus einem unruhigen Schlaf.
»Frau Weymann …?«
Sie blinzelte in das Licht, das durch die geöffnete Zellentür fiel. Stand dort Mayer?
»Frau Weymann, bitte stehen Sie auf und ziehen Sie sich an.« Er war es. Warum wurde sie mitten in der Nacht von ihm aufgeweckt?
»Wie spät ist es?«, fragte sie schlaftrunken.
»Es ist kurz nach fünf.«
Er machte das Licht an.
Sie drehte ihm den Rücken zu und zog ihre Decke fester um ihre Schultern. »Kommen Sie morgen wieder.«
Schritte hallten dumpf auf dem nackten Steinboden. Im nächsten Augenblick spürte sie seine Hand auf ihrer Schulter. »Frau Weymann, kommen Sie bitte mit mir.«
Eine für ihn ungewöhnliche Spannung lag in seiner Stimme. Etwas war geschehen. Sonst wäre er nicht hier. Langsam drehte sie sich zu ihm um, richtete sich auf und erschrak bei seinem Anblick. Er sah grauenvoll aus. Er war entsetzlich blass, und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Zudem bewegte er seinen Kopf so vorsichtig, als hätte er Schmerzen.
»Was ist mit Ihnen passiert?«, fragte sie erschüttert. »Hatten Sie einen Unfall?«
»Es hat einen Bombenanschlag in der Stadt gegeben.«
»Was?!« Ungläubig starrte sie ihn an, nicht sicher, ob sie ihm glauben konnte.
»Wir haben mittlerweile fünf Tote. Etwa zwanzig Verletzte, zwei davon schwer.«
Er meinte es ernst. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel zu.
Fünf Tote.
»Wo …?«
»Am Dammtorbahnhof.«
Dammtorbahnhof. Ganz in der Nähe von Marcs Büro.
»Wann … wann ist es passiert?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Am frühen Nachmittag.« Ein Muskel in seinem kantigen Gesicht zuckte vor Anspannung.
Früher Nachmittag. Vergeblich versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Fünf Tote. Zwanzig Verletzte. Ein Bombenanschlag. Mitten in Hamburg. »Haben Sie die Täter?«
Mayer antwortete nicht sofort.
»Wir haben den Täter identifiziert«, sagte er schließlich. »Sie kennen ihn. Es ist Safwan Abidi.«
Sie schien keine Luft mehr zu bekommen. Der Abgrund, an dessen Rand sie stand, weitete sich in seiner ganzen dunklen Schrecklichkeit und zog sie hinab …
»Oh, mein Gott«, entfuhr es ihr.
Sie schlug die Hände vors Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen, aber Mayer war schneller, beugte sich über sie und packte ihr Kinn mit seinen Fingern. Zwang sie, ihn anzusehen. »Werden Sie jetzt mit uns reden?«, fragte er, und seine Stimme war plötzlich kalt. Kälter, als sie es je für möglich gehalten hätte. »Oder müssen noch mehr Menschen sterben?« Abrupt ließ er sie los und trat einen Schritt zurück.
Valerie schluckte.
Er war verletzt worden bei dem Anschlag. Staub und Schmutz bedeckten seinen Mantel. Und er hatte die Toten gesehen. Vielleicht noch schlimmer: Er hatte unschuldige Menschen sterben sehen.
Werden Sie jetzt mit uns reden?
Was konnte sie ihm erzählen? Nichts würde er ihr glauben, so wie er sie ansah. Nichts. Verzweifelt atmete sie gegen ihre Angst an. Tränen liefen über ihre Wangen. Hastig wischte sie sie fort.
Ein Anschlag mitten in Hamburg. Ausgeführt von einem Mann, dessen Weg sie in einem anderen Leben, in einer anderen Zeit gestreift hatte, flüchtig, unverhofft und ohne Option auf Wiederkehr. Und nun tauchte er wie aus dem Nichts auf, griff nach ihr und zog sie in das Verderben. Safwan, der Fels. Es war so entsetzlich und so absurd, dass sie gar nicht
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