Machtlos
wäre, ihre Familie zu verlassen, der Polizei auszuliefern. Schlimmer noch, den Geheimdiensten. Eine flüchtige Affäre, hatte sie Mayer erzählt. Nichts, was ihre Beziehung zu Marc gefährdet hätte. Der Wahrheit entsprach lediglich die Tatsache, dass Marc ahnungslos war, nie erfahren hatte, was auf jener Reise in den Libanon vor fünf Jahren geschehen war und in den anderthalb Jahren danach, bis sie und Safwan begriffen hatten, dass sie die Barrieren nicht würden überwinden können, dass sie mehr trennte als verband. Ihr Leben in so unterschiedlichen und weit voneinander entfernten Teilen der Welt hatte es leichter gemacht, den Entschluss umzusetzen. Die Seelenqual hatte es nicht genommen. Jetzt seine Nähe zu spüren, ihn am Telefon zu hören, hatte eine zum Schweigen verdammte Stimme befreit, wiedererweckt. Hatte alle Zweifel wieder aufleben lassen.
Safwan – ein Terrorist?
Valerie atmete tief durch. Drei Jahre waren eine lange Zeit. Sie wusste nicht, was in dieser Zeit passiert war, welche Schicksalsschläge ihn getroffen hatten. Sie erinnerte sich an die Aufnahme aus dem Dammtorbahnhof, jenen Ausdruck in seinem Gesicht, der ihr so fremd erschienen war.
Das Botschaftsgebäude verwandelte sich plötzlich in eine Bastion, die sie stürmen musste. Sie allein. Sie unterdrückte den Wunsch, auf den umliegenden Parkplätzen nach den Zivilfahrzeugen der Polizei Ausschau zu halten. Sie waren da. Sie musste sich darauf verlassen. Ihr würde nichts passieren. Ihr nicht, nein. Aber darum ging es auch nicht. Sie drückte den Klingelknopf.
Von den folgenden Minuten blieb ihr nur eine verschwommene Erinnerung, geprägt von einem klopfenden Herzen und zitternden Knien. Ein freundlich lächelnder Botschaftsangestellter führte sie in einen Besucherraum, der sie inmitten des Hamburger Winters mit einem Hauch von
Tausendundeine Nacht
umgab. Ob sie Tee oder Kaffee wolle, wurde sie gefragt. Dann war sie allein. Sie zog ihren Mantel nicht aus. Die schusssichere Weste umschloss ihren Torso wie ein Panzer, und plötzlich wünschte sie sich, es gebe ein Korsett, das auch ihr Herz vor Verletzungen bewahrte.
Die Tür wurde geöffnet, aber es war nicht Safwan, der hereinkam, sondern der junge Botschaftsangestellte mit einem Tablett. »Bitte setzen Sie sich doch. Herr Abidi kommt sofort«, sagte er und reichte ihr eine Tasse.
»Danke, ich nehme mir gleich.« Ihre Hände zitterten zu sehr, um das feine Porzellan sicher zu fassen.
»Hallo, Valerie.«
Sie zuckte zusammen. Sie hatte ihn nicht hereinkommen hören.
Er sah müde aus. Das markante Gesicht war blass. Das Haar zu kurz für seine unbändigen Locken. Er trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Der Anblick war so vertraut, dass es schmerzte, und drei Jahre lösten sich auf. Verloren sich. Was auch immer Fremdes auf dem Foto der Überwachungskamera in seinem Gesicht gelegen hatte, existierte nicht in der Realität.
»Hallo, Safwan«, erwiderte sie.
Wir sind die ganze Zeit über bei Ihnen.
Sie wollte nicht, dass irgendjemand diesen Moment miterlebte. Sie beging Verrat. Wie hatte sie sich nur darauf einlassen können? Stand sie wirklich einem Attentäter gegenüber, einem Terroristen? Schwarz auf weiß hatte sie die Beweise gesehen, die seine Schuld belegten. Die polizeilichen Ermittlungsberichte aus Kopenhagen, die Aufnahme der Überwachungskamera in Hamburg. Doch jetzt waren ihre Zweifel übermächtig. Weil die Taten nicht zu dem Menschen passten, den sie kannte. Beging sie gerade einen fatalen Fehler?
Sie spürte den dichten Teppich unter ihren Füßen. Den Geruch von Kaffee in der Luft. Safwans dunkle, fragende Augen. Alle Sinne kehrten gleichzeitig zu ihr zurück. Und in der Innentasche ihres Mantels drückte der Brief, den sie ihm übergeben sollte.
Niemand sprach je über die Familien und Freunde der Mohammed Attas dieser Welt. Als sie nun Safwan Abidi gegenüberstand, fragte Valerie sich, ob sie jemals zuvor an diese Menschen, die Hinterbliebenen der Attentäter, gedacht hatte. Daran, wie sie sich gefühlt haben mussten, als sie erfuhren, dass ihre Söhne, Männer oder Brüder – Menschen, die sie liebten – für den Tod Unschuldiger verantwortlich waren.
Was hatte neben dem ungläubigen Entsetzen noch Platz? War es Fassungslosigkeit oder Verantwortlichkeit, die sie empfanden? Oder vielleicht sogar Wut? Konnten sie trauern? Die Leichen der Männer, die für den Anschlag in Mumbai verantwortlich waren, lagen über Monate in einer
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