Machtlos
Mund eines Mannes, der so liebenswürdig chaotisch wirkte, waren Marc seltsamerweise glaubwürdiger erschienen, als wenn er sie von Mayer gehört hätte, dessen aalglatte Fassade nie einen Rückschluss auf seine Gefühle zuließ. Und so hatte er beschlossen, die Tage bis zum Jahreswechsel zu arbeiten und den Jahresabschluss der Firma vorzubereiten. So war er zumindest ein paar Stunden am Tag beschäftigt und dachte nicht ständig über Valerie nach.
»Das Bundeskanzleramt und der BND lassen nichts unversucht«, hatte ihm auch Meisenberg versichert. Franka von Sandt hatte sich ähnlich geäußert. Sie standen in ständigem Kontakt miteinander. Eine der Zeitungen, bei denen er vorstellig geworden war, hatte doch noch einmal bei ihm nachgefragt, aber angesichts der Entwicklung, die der Fall genommen hatte, hatte er darauf verzichtet, sich mit einem Mitarbeiter zu einem Gespräch zu treffen. Dennoch blieb ein großer Rest Unbehagen. Und viele, viele offene Fragen, die ihn vor allem nachts quälten, wenn er sich schlaflos in seinem Bett hin und her wälzte. Wie hatte Valerie aus dem Gefängnis verschwinden können und vor allem, warum? Wo war sie jetzt, wie ging es ihr? Lebte sie noch?
Er stellte sich vor, was er alles mit ihr und für sie machen wollte, wenn sie nur wieder da wäre. Es gab einiges, das bei ihnen in der letzten Zeit zu kurz gekommen war, und er wusste insbesondere um ein paar Wünsche, die sie sich seit Längerem sehnlichst erfüllen wollte. Ein Opernbesuch gehörte dazu, ein Kurztrip nach Madrid und ein Urlaub mit den Mädchen am Meer. Sie hatten seit zwei Jahren keinen gemeinsamen Urlaub mehr gemacht, weil sie beide beruflich zu eingespannt gewesen waren. Weil immer etwas anderes Priorität gehabt hatte. Er hatte sich dabei ertappt, dass er im Internet das Programm der Hamburgischen Staatsoper durchforstet und nach Luxushotels in Florida gesucht hatte, und er war sich kindisch vorgekommen, als er begriffen hatte, was er tat. Aber letztlich war es im Grunde nichts anderes als das, was auch die Mädchen machten. Sie malten Bilder für Valerie, jeden Tag eins, und sammelten sie in einer Mappe, die sie ihr schenken wollten, wenn sie wieder bei ihnen war. »Damit Mama weiß, was in der Zwischenzeit alles zu Hause passiert ist«, hatte ihm Leonie ernst erklärt. Es ging nicht mehr darum, ob Valerie nach Hause kam, nur noch wann. Den Gedanken, dass sie sie vielleicht niemals wiedersehen würden, ließ keiner von ihnen zu.
* * *
Eric Mayer schritt über das Rollfeld von Cluj-Napoca und dachte an seinen letzten Auslandsauftrag. Er hatte die Koordination der deutschen nachrichtendienstlichen Aktivitäten in Afghanistan übernommen und agierte von der Botschaft in Kabul aus, als drei deutsche Ingenieure, die für eine deutsche Firma bei einem Straßenbauprojekt tätig waren, im Norden des Landes entführt worden waren. Er war drei Tage im Gebirge in der Grenzregion zu Pakistan unterwegs gewesen, um sich mit dem verantwortlichen Stammesfürsten zu treffen, für den die Entführung neben dem finanziellen Aspekt vor allem die Chance bot, international Gehör zu finden und Aufmerksamkeit zu erhalten für die Probleme in der Region, die unter der korrupten Führung Kabuls, dem Bombardement der Amerikaner und der Knechtschaft der Taliban zerbrach. Der Treffpunkt war von Seiten des Afghanen immer wieder verlegt worden, und Mayer war durch unzählige Bergdörfer gekommen, in denen Menschen unter schwierigsten Bedingungen lebten und immer wieder aufbauten, was zerstört worden war. Es waren langwierige und zähe Verhandlungen gewesen, unzählige Telefonate über das Satellitentelefon mit dem Auswärtigen Amt, der deutschen Botschaft und Vertretern der deutschen Firma. Die Männer waren völlig überfordert gewesen und in Gedanken nur bei ihren Familien, getrieben von der Angst, sie nie wiederzusehen. Mayer hatte sich damals ernsthaft gefragt, ob irgendjemand diese Männer vor ihrem Einsatz außer mit exorbitanten Gehältern und Vorschusszahlungen auf die real existierenden Gefahren vorbereitet hatte, denen sie sich unter Umständen stellen mussten. Er hatte wenig Mitleid mit ihnen gehabt.
Der Fall Weymann stellte sich für ihn in einem völlig anderen Licht dar. Das erste Mal in seiner Laufbahn erlebte er eine emotionale Beteiligung. Allein schon aus diesem Grund – darüber war er sich durchaus im Klaren – hätte er den Fall nicht übernehmen dürfen. Es entsprach weder seiner Art noch seinem Arbeitsstil,
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