Machtlos
ihrem Erwachen am Mittwoch im Haus Brookstedt tatsächlich nicht mehr als ein paar Minuten vergangen. Zusammengezählt war sie seit dem Angriff in Laboe nämlich nur diese kurze Zeit bei Bewusstsein gewesen. Der Albtraum ihrer Flucht war noch viel zu nah und wenn sie dauernd «schlafen geschickt» wurde, konnte sie das Ganze sicher nicht verarbeiten. Das machte die Sache nicht besser. Sie wurde von Mal zu Mal misstrauischer und panischer. Hinzu kam, dass sie sich wahnsinnig zu Lenir hingezogen fühlte, ihm jedoch nicht mehr traute.
„Oh, Mann!“, stöhnte Lenir und rannte wieder zu Kerstins Tür zurück. Er konnte nichts hören.
Nichts außer ihrem verdammt regelmäßigen Atem.
Sie schlief.
„Ich werde hier echt bekloppt!“ Er beschleunigte seine Schritte erneut.
Heute war Donnerstag. Es war später Nachmittag. Dieser anhängliche Vogel von Alexander hatte seit Dienstagabend bestimmt schon dreißig Mal auf Kerstins Handy angerufen. Zwanzig Mal davon allein heute. Er hatte sich zwar auch bei Victoria direkt erkundigt, ihr jedoch nicht geglaubt, dass Kerstin nicht mit ihm sprechen wolle. „Das will ich von ihr selbst hören“, hatte der aufdringliche Stalker gesagt.
„Scheiße!“ Wenn sie nicht bald etwas unternahmen, würde der Typ sicher zur Polizei rennen.
„Ha! Ha, ha! Die Polizei ist noch unsere kleinste Sorge. Heute Abend tagt der Große Rat. Da nehmen sie die Geschehnisse in Laboe unter die Lupe und dann ist es endgültig aus!“, grummelte er vor sich hin.
Dann haute er wütend mit seiner Faust gegen die Wand. Krachend zerbarst die elegante, dunkle Holzvertäfelung.
Es war ihm egal.
Er spürte keine Schmerzen.
Er hätte sie haben können. All die Monate über hätte er Kerstin haben können, doch er hatte sie immer wieder ignoriert und schließlich sogar zurückgewiesen. Und jetzt? Jetzt war es zu spät! Er hatte sie schützen wollen, aber was hatte er damit angerichtet?!
„Ich drehe gleich durch!“, brüllte er und schlug noch einmal krachend gegen die Wand.
Splitter stoben durch die Luft. Ein zweites Loch entstand.
Seit Dienstag hatte er sich nur eine Handvoll Stunden Schlaf gegönnt. Gegessen hatte er gar nicht. Er war ausgezehrt und übermüdet. Aber das war ihm so was von wurst. Schlaf war ein Luxus, den er sich zurzeit einfach nicht leisten konnte. Und Nahrung? Was sollte er damit, wenn er nicht mit Kerstin zusammen sein konnte?
„Aaaaaahhhhhhhhhh“
Bam!
Noch ein Loch in der Vertäfelung.
Narex und Mandolan redeten nur schlau daher. Lösungen hatten sie keine. Selbst Hoggi konnte ihm nicht helfen. Und Abrexar hatte sich seit seinem Abflug gar nicht mehr gemeldet. Vermutlich würde sein Mentor ihn eh zusammenfalten, sobald er ihn sah. Jaromir hatte berichtet, dass er selbst ihn, seinen Musterschüler, und sogar Victoria, die erste Gefährtin seit ist-mir-doch-scheiß-egal, lang gemacht hatte, nur weil sie dicht gehalten hatten. Auf seine Freunde war Verlass.
Aber auch die beiden waren ratlos.
„SCHEISSE!!!“
Bam!
Splitterregen und noch ein Loch.
„Sie hört mir nicht zu! Sie hört mir einfach nicht zu! Ich werde verrückt!“
Bam!
Mittlerweile erinnerte die Flurvertäfelung an einen Schweizer Käse.
„Wenn sie mir doch nur zuhören würde! Wenn ich ihr doch nur sagen könnte, was ich für sie empfinde. Dann wüsste sie, dass all die kleinen Lügen in der Vergangenheit bedeutungslos wären. Dann könnte ich mich ihr endlich offenbaren.“
„ABER“
Bam!
„SIE“
Bam!
„HÖRT“
Bam!
„MIR“
Bam!
„NICHT!“
Bam!
„ZU!!!!!“
Bam!
„AAARrrrgggggGGG!“
Bam! Bam! Bam!
Lenirs Hände waren blutig und mit Splittern gespickt.
Unwichtig.
In diesem Moment kam Victoria aus Kerstins Zimmer. Sie blickte beiläufig auf die zerstörte Wand und dann auf seine Hände.
„Es ist sehr nett von dir, dass du schon mit der Renovierung des Hauses beginnst und die Vertäfelung herunter holst, aber Kerstin wird unruhig. Selbst im Schlaf scheint sie zu merken, dass hier etwas nicht stimmt.“
Sofort verrauchte seine Wut. „Ich mache schon wieder alles falsch! Warum mache ich immer alles falsch?“
Er sackte in sich zusammen, rutsche an der Wand hinunter und Tränen liefen über sein Gesicht. Er konnte nicht mehr. Verzweifelt flüsterte er: „Wenn sie mir doch nur einmal richtig zuhören würde… wenn sie doch nur fühlen könnte, was ich für sie empfinde…“
Victoria sah ihn aufmerksam an. Ihr war deutlich bewusst, dass ihnen die Zeit davon lief. Der
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