Machtlos
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich wollte mir dir reden, aber…“
„…ich wollte nicht zuhören“, vollendete Kerstin seinen Satz mit einem schiefen Lächeln.
Sie sahen sich tief in die Augen und Kerstin hauchte: „Kommt nicht wieder vor.“
Die beiden waren gefangen. Ihre Lippen fanden sich fast von allein.
Victoria dachte lächelnd an ihren ersten Kuss mit Jaromir, im April vor vier Monaten, im Projensdorfer Gehölz. Jaromir hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen. Sie war schon an der Tür und wollte die gerade hinter sich schließen, als sie mit Entsetzen sah, dass die Luft um Lennard herum gefährlich flimmerte.
„SCHEISSE!“
Lenir war übermüdet und viel zu überreizt, um noch klar denken zu können und dieser Raum war ganz sicher viel zu klein für seine Drachengestalt!
„OH NEIN! NICHT HIER!“, rief Victoria scharf, sprang mit einem Satz auf Lenir zu und zog ihn von Kerstin weg.
Der fauchte sie wütend an, doch Victoria platzierte in seinem Geist sofort das Bild von einstürzenden Wänden, herabfallenden Deckenbalken und ihm in Drachengestalt in der Mitte.
Lenirs Wut erlosch noch bevor sie richtig aufgeflammt war. „Oh – du hast recht, Victoria“, gab er kleinlaut zu.
„Natürlich habe ich recht! Geht in den weißen Salon. Da ist Platz!“, antwortete sie barsch.
Grinsend nahm Lennard Kerstin bei der Hand und führte sie aus dem Raum.
Irgendwo in der Tiefe des Flurs dachte Narex: „Alter Schwede, Victoria hat Mumm … und Haare auf den Zähnen!“
„Das habe ich gehört!“, rief Victoria.
„Oh. Mist!“
Mandolan grinste schadenfroh, gab Narex aber insgeheim recht.
„Schön für dich Mandolan. Aber tu doch zur Abwechslung mal was Nützliches. Statt schadenfroh zu grinsen, informiere lieber Abrexar. Und sag Albert Bescheid, dass Lenir ihm in Kürze die Haare vom Kopf fressen wird. Sobald der sich nämlich seiner Gefährtin offenbart hat, wird ihm auffallen, dass er seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hat.“
Kurze Stille.
Dann brach Mandolan plötzlich in schallendes Gelächter aus. Er konnte sich gar nicht wieder einkriegen und schlug Narex laut lachend auf die Schulter, während die beiden sich in Richtung Küche aufmachten.
Victoria war erschöpft.
Jaromir war schon bei ihr, hakte sie unter und begleitete sie in ihr gemeinsames Schlafzimmer.
Zurück im Flur blieb ein breit grinsender Hoggi. So viel Spaß hatte er in den letzten zweitausend Jahren nicht an allen Schülern zusammen gehabt!
25. Die Sondersitzung
Am nächsten Morgen frühstückten die vier Gefährten gemeinsam im weißen Salon und unterhielten sich ungezwungen. Lenir grinste alle fünf Sekunden wie ein Honigkuchenpferd und war entspannt und aufgekratzt zugleich. Endlich musste er seine Gefühle für Kerstin nicht mehr verbergen, sondern konnte sie vor sich selbst zugeben und ganz offen um Kerstin werben.
Kerstin war still beim Essen. Sie war verwirrt. Einerseits war sie erleichtert, dass tiefe Liebe an die Stelle der unerfüllten Sehnsucht nach Lennard getreten war. Andererseits konnte sie die Sache mit den Drachen kaum fassen. Lennard hatte sich ihr am letzten Nachmittag in seiner wahren Gestalt gezeigt. „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, aber trotzdem kommt es mir wie ein Traum vor. Kann das wirklich wahr sein?“ , dachte sie erstaunt. „Seine Liebe ist unglaublich, aber…“
Kerstin konnte die diffuse Beklemmung in ihrem Bauch nicht in klare Gedanken fassen. Die Welt, die sie bis gestern für die Realität gehalten hatte, war über Nacht im dichten Nebel verschwommen. Sie konnte nicht mehr erkennen, was Wirklichkeit war.
Sie riss ihren Blick mühsam von Lennard los – „Lenir“ , verbesserte sie sich in Gedanken – und sah in die Runde. Gegenüber saß ihre Freundin Victoria und neben ihr Professor Custos Portae, den sie seit zwei Wochen Jaromir nennen durfte. „Er ist auch ein … Drache…“ Das Wort konnte sie kaum denken, so fremd fühlte es sich an.
„Und doch ist es die Wahrheit“ , antwortete Jaromir Kerstin freundlich in Gedanken.
Erschrocken riss die junge Frau ihre Augen auf. „An diese Telepathie-Geschichte werde ich mich nie gewöhnen! Alle können in meinen Kopf gucken“ , dachte sie mit wachsendem Unbehagen.
„Ach Kerstin, das vergeht bestimmt ganz schnell“, machte Victoria ihr Mut. Sie nahm sich noch ein Brötchen und fuhr fort: „Bald kannst du dich abschirmen; dann wird es besser.“
„Da bin ich mir nicht so sicher“, murmelte
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