Machtlos
Wenn die Verfolger das Mädchen getötet hätten, hätten sie uns einen Gefallen getan. Nun müssen wir das Gedächtnis des Mädchens anpassen.“
Abrexar sah Jalina direkt an und fragte ruhig: „Du bist wirklich der Meinung, dass ich Victorias Freundin hätte sterben lassen sollen?“
Jalinas Augen waren kalt, als sie die Drachen der Reihe nach anschaute und antwortete: „Victoria hat sich mit einem von uns verbunden und will Teil unserer Welt sein. Jetzt muss sie auch mit unseren Regeln leben. Eine dieser Regeln lautet nun mal, dass wir unsere Existenz vor den Menschen verborgen halten. Das schließt ein, dass wir keine unwissenden Menschen von Türmen retten – ob unsichtbar oder nicht. Entsprechend dieses Gesetzes hätte Abrexar Victorias Freundin auf dem Ehrendenkmal lassen müssen. Victoria wird in Kürze all ihre Menschenfreunde verlieren, was sind denn schon ein paar Jahrzehnte mehr oder weniger?“
Victoria knallte aufgebracht ihr Messer auf den Tisch, doch die Erinnerung des schwarzen Drachen ging unerbittlich weiter.
Abrexar blickte sich um und erkannte in einigen Gesichtern Zustimmung für Jalinas Ausführungen. Er wusste, dass es jetzt keinen Sinn machte, erklären zu wollen, wie wichtig die Menschen für Victoria waren.
Jalina seufzte und fuhr mit echtem Bedauern fort: „Auch wenn es für Victoria schwer ist sich anzupassen, sie muss es tun, wenn sie zu uns gehören will.“ Dann wurde ihr Tonfall geschäftsmäßig: „Und nun müssen wir diese Freundin aufsuchen und ihre Erinnerungen bereinigen. Gib mir die Koordinaten, Abrexar, damit wir diese unnötige wie lästige Angelegenheit erledigen können.“
Genau das hatte er befürchtet. Er schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, blickte er Jalina entschlossen an. „Das werde ich nicht tun.“
In der großen Halle der Goldenen herrschte plötzlich fassungslose Gedankenstille.
„Was?“ , fragte die Königin der Goldenen verständnislos, als hätte sie Abrexar nicht richtig gehört.
Alle Drachen beobachteten gebannt, was sich nun vor ihren Augen tat. Kaum einer von ihnen hatte jemals erlebt, dass sich ein Drache Jalina offen widersetzte.
Abrexar antwortete betont gelassen und freundlich: „Ich werde dir die Koordinaten von Victorias Freundin nicht geben, denn das Gedächtnis der jungen Frau darf nicht manipuliert werden.“
„Was soll das heißen?“ , fauchte Jalina genervt. „Hast du vor, unsere Gesetze zu missachten?“
„Das würde ich niemals tun“ , gab Abrexar ernst zurück.
In diesem Moment erreichte ihn die Nachricht von Mandolan, dass Lenir sich Kerstin offenbaren würde.
Erleichterung erfüllte ihn. Dann lächelte er und sendete: „Der Geist der jungen Frau darf nicht angepasst werden, denn sie gehört jetzt zu uns.“
„Ich verstehe nicht. Was soll das heißen: «sie gehört zu uns»?“
„Das heißt, ehrenwerte Königin, dass Kerstin eine Gefährtin ist. Lenir offenbart sich ihr in dieser Sekunde.“
Aufgeregte Gedanken schwirrten nun wie Gemurmel von allen Seiten durch den Raum und zum ersten Mal in seinem langen Leben sah Abrexar echtes Unverständnis im Gesicht der Goldenen. Dann zeigte sich für einen Wimpernschlag grenzenloses Entsetzen in ihren Zügen, das schließlich in Zorn umschlug.
Wütend fuhr Jalina Abrexar an: „Das ist eine LÜGE! Ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass es etliche Jahrzehnte dauert, bis sich an einem Ort ein zweites Gefährtenpaar finden kann. Was soll diese fadenscheinige Ausrede? Willst du mich verhöhnen?“
Angespannte Stille füllte die Halle.
Abrexar schüttelte den Kopf. „Ich lüge nicht, Jalina, Königin der Goldenen.“ Dann öffnete er seinen Geist und zeigte die Bilder, die Mandolan ihm soeben gesendet hatte. Schließlich ergänzte er: „Noch hat sich Lenir seiner Gefährtin nicht offenbart, doch wie gesagt, er tut es in dieser Sekunde.“
Jeder Drache konnte sehen, dass Abrexar die Wahrheit sprach.
Der alte Schwarze blickte in die Runde und fuhr fort: „Auch ich war sehr erstaunt und konnte es nicht glauben, dass wir tatsächlich ein zweites Gefährtenpaar in unseren Reihen begrüßen dürfen.“
Jalina funkelte ihn zornig an. „Erstaunt? Du wusstest doch davon! Lenir ist dein Schüler. Wie lange hast du diese Information zurückgehalten?!“
Abrexar betrachtete die Königin der Goldenen nachdenklich. So außer sich hatte er Jalina noch nie gesehen. Ansonsten behandelte sie ihn immer zuvorkommend. Sie war aalglatt, verlogen und falsch, aber das
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