Machtlos
Stimmung in der Halle kippte. Kurz zuvor noch waren die Drachen zuversichtlich gewesen, was die Tore betraf und voller Vertrauen Abrexar gegenüber. Nun regte sich Misstrauen. Wenn Abrexar von dieser merkwürdigen Verbindungsart nichts gewusst hatte, was war ihm sonst noch alles entgangen? Wie zuverlässig waren die Ergebnisse der Examination? Schon auf der letzten Sitzung hatte sich gezeigt, dass der Wächter der Wächter die Situation an den Toren offensichtlich nicht so ernst nahm, wie er es müsste.
Victoria schluckte bedrückt. Das hier lief ganz sicher nicht so wie geplant.
Jaromir leitete die aufgefangenen Gedankenfetzen der Drachen an seinen Mentor weiter und der ging nun gezielt auf die Bedenken ein und versuchte, sie mit Mandolans Hilfe zu zerstreuen.
Victoria hörte gar nicht richtig zu. Sie musste nachdenken. Irgendwas war merkwürdig an Tarins Erinnerungen gewesen. Sie kam nur nicht darauf, was sie störte.
Plötzlich bemerkte sie, dass sich Jalina diebisch freute. Äußerlich war die Goldene Abrexar zugewandt und hörte ihm aufmerksam zu. Doch ihre Gedanken straften ihr interessiertes Gesicht lügen: „Das habe ich mal wieder gut hinbekommen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Hihi! Abrexars Vorschlag ist vom Tisch und als Bonus habe ich das Vertrauen in ihn schwächen können. Die Sitzung läuft tadellos.“
In diesem Moment wurde Victoria klar, was nicht stimmte. Die Erinnerungen hatten zartrosa Ränder gehabt. Ganz schwach nur, aber doch da. „Das zweite Gesicht“ , dachte die Gefährtin verwirrt. „Aber wie kann es sein, dass Jalina eine Zukunftsvision von diesem Gespräch hatte? Tarin und dieser Myrddin sind doch schon lange tot… das verstehe ich nicht. Was soll denn das? Oder hatte Tarin diese Vision noch zu ihren Lebzeiten und hat die Erinnerung daran weitergegeben?“
Sie kam nicht dazu, weiter über dieses Problem nachzudenken, denn in diesem Moment senkte sich ein überraschtes Schweigen über die Halle, welches unmittelbar durch einen ungläubigen Schrei aus dem Lager der Grünen zerrissen wurde: „SHARRAH! Bei der Sphäre – du LEBST!“
Für eine Sekunde durchzuckte Jalina tiefe Wut. Ein Blick genügte der Königin, um festzustellen, dass die Gerüchte wahr waren und ihre Assassinen versagt hatten.
Doch gleich darauf spürte Victoria eine Welle der Erleichterung und Dankbarkeit von der Goldenen ausgehen.
„Sharrah, du lebst! Der Sphäre sei Dank!“ , rief nun auch Jalina. Sie erhob sich geschmeidig von ihrem Podest und flog elegant durch die Halle der Grünen entgegen. „Als wir die Spuren deines und Fahimjas schrecklichen Unfalls entdeckten, haben wir verzweifelt nach dir suchen lassen! Wir konnten dich nirgendwo finden und befürchteten, der Berg habe dich für immer verschluckt.“
Jalina landete ein kleines Stück vor Sharrah und sendete zutiefst erleichtert: „Ich bin so froh, dich gesund zu sehen!“ Sie wollte nach den Klauen der Grünen greifen – ein Zeichen der Verbundenheit unter den Drachen – doch der große blaue Drache, der die Grüne begleitete, trat entschieden zwischen die beiden Weibchen.
„Was hat das zu bedeuten, Plasch?“ , fragte Jalina bestürzt, als sie in die abweisenden Gesichter der beiden Neuankömmlinge blickte. „Was stimmt nicht, Sharrah?“
Doch der Blaue blieb stumm. Die Grüne kämpfte offensichtlich mit ihren Gefühlen. Sie glaubte Jalina kein Wort und hatte große Angst, doch gleichzeitig zerriss die Sehnsucht nach ihren Schwestern ihr Herz.
Mit ehrlicher Anteilnahme sendete Jalina sanft: „Du hast uns so gefehlt. Deine Schwestern und wir haben wochenlang getrauert und viele tun es noch immer. Du hast ein großes Loch in unserer Gemeinschaft hinterlassen, Sharrah.“
Die Grüne sammelte sich. Misstrauisch blickte sie die Königin an. Dann nahm sie allen Mut zusammen und trat ein paar Schritte an ihr vorbei, so dass alle sie sehen konnten. Entschlossen sendete sie: „Ich bin zum Paarungsflug aufgestiegen.“
Auf diesen Satz folgte erst ungläubiges Schweigen und dann großer Tumult. Die Grünen hielt nichts mehr an ihrem Platz. Sie flogen auf ihre Schwester zu und tasteten mit Blicken die Mitte von Sharrah ab. Es konnte keinen Zweifel geben: Sie war nicht nur quicklebendig, sondern zweifellos auch trächtig. Überglücklich umringten die Grünen ihre verloren geglaubte Schwester und stimmten einen überschäumend fröhlichen Gesang an, der jeden in der Halle tief berührte und mitriss.
Nach einer Weile klang der Gesang aus
Weitere Kostenlose Bücher