Machtlos
zugleich.
Aber Jaromir hob unschuldig die Hände. Er lachte und rief aufgekratzt: „Komm Vici, lass uns starten!“
Dann verwandelte er sich in einer fließenden Bewegung in einen athletischen, schwarzen Drachen. Er ging in die Hocke und streckte sein rechtes Vorderbein aus, so dass Victoria aufsteigen konnte.
Sie schob ihre Kamera in die Tasche ihrer Fleecejacke und stieg auf. Als sie bequem in seiner Nackenfalte Platz genommen und zwei seiner weichen Langschuppen um ihre Handgelenke geschlungen hatte, drehte er seinen Kopf nach hinten und sah sie aufmerksam an. „Bist du bereit? Ich werde mich gleich nur kurz abstoßen und dann sofort springen.“
Sie schluckte aufgeregt. „Ja, es kann losgehen.“
Dann konzentrierte sie sich darauf, nicht von seinem Rücken zu rutschen und wappnete sich innerlich gegen die weiße Kälte der Nebelsphäre.
Sie spürte, wie Jaromir seine Muskeln anspannte und sich kraftvoll vom Boden abdrückte. Kaum hatte er seine Schwingen ausgebreitet, da tauchten sie auch schon in die Nebel ein.
Alles war weiß um sie herum. Wie bei den ersten beiden Sprüngen verlor Victoria komplett die Orientierung. Sie wusste nicht mehr, wo oben oder unten war. Alles war widerlich wattig und Eiseskälte schlich sich in ihre Knochen. Ihr Magen rebellierte, aber bevor es richtig schlimm wurde, waren sie schon wieder aus der Sphäre heraus.
Victoria sah sich um und erkannte, dass sie in einer schummrigen Halle gelandet waren. Zwei große Rolltore verschlossen den Ausgang. Hier waren irgendwann einmal Boote gelagert worden. Die Halle war schäbig und fast leer. Nur drei kleine Optimisten lagen mit dem Kiel nach oben in einer Ecke und sahen so aus, als müssten sie dringend mal auf Vordermann gebracht werden.
Jaromir hatte sich hingehockt und blickte sie über seine Schulter an. „Geht es, Kleines?“
Sie nickte. Die Übelkeit war schon fast vergessen.
Er streckte einen Vorderlauf aus. „Dann steig am besten gleich ab, damit ich mich zurückverwandeln kann. Diese Halle wird zwar selten genutzt, aber man weiß ja nie…“
Erschrocken kletterte Victoria herunter. „Und was hättest du gemacht, wenn hier jemand drin gewesen wäre?“
Jaromir verwandelte sich in einer fließenden Bewegung zurück in seine menschliche Gestalt und kam zu ihr. „Wir Drachen wissen zwar nicht in allen Einzelheiten wie unser Zielort in dem Moment des Sprungs aussieht, aber wir können erahnen, ob der Sphärenübergang frei ist. Ist der zum Beispiel durch einen Felsen, einen Baum, ein Haus oder auch durch Lebewesen wie Drachen oder Menschen versperrt, kann ich das wahrnehmen und an einer anderen Stelle in der Nähe herauskommen. Man muss sich dafür allerdings konzentrieren. Durch Nachlässigkeiten ist es schon zu dramatischen Unfällen gekommen.“
Victoria verzog mitfühlend ihr Gesicht und sah mit Schrecken einen Drachen in seinen Gedanken, der mitten in einer Mauer aus der Sphäre getreten war.
Jaromir nickte ernst. „Genau solche Dinge sind passiert. Darum ist es so wichtig, nur mit wachem Verstand einen Sprung zu wagen. Aber genug davon.“ Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich.
Victoria versuchte die bedrückenden Bilder abzuschütteln und eine andere Frage drängte sich in ihr Bewusstsein. „Und was hättest du gemacht, wenn hier doch jemand drin gewesen wäre?“
Jaromir lächelte verwegen: „Ich hätte mich unsichtbar gemacht und wäre über der Bootshalle ausgetreten. Von dort aus wäre ich direkt weiter gesprungen.“
Diese Vorstellung behagte Victoria gar nicht und so ergänzte er: „Das Risiko war gering… Ich habe diese Halle in den letzten Jahren häufiger genutzt. Hier ist nichts los.“
Sie verließen die Halle durch eine kleine Tür in einem der Rolltore.
Von außen war die alte Bootshalle noch heruntergekommener. Victoria blickte sich um und sah direkt vor sich einen Deich. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und fragte stumm: „Wo sind wir denn hier?“
Jaromir antwortete nicht, sondern zog sie stattdessen lachend den Deich hinauf.
Oben angekommen, konnte Victoria das weite Deichvorland überblicken. Sie hörte verschiedene Strandvögel rufen und die Grillen zirpen. Eine leichte Brise wehte ihr um die Nase und machte die Hitze erträglich.
Das hier war für Victoria der Inbegriff des Sommers. Sie hatte die Aussicht von der Deichkrone schon als Kind geliebt. Sie ließ ihren Blick schweifen. Das war hier eindeutig nicht Glückstadt, denn das Deichvorland zog sich
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