Machtlos
„Versprich mir, dass du die nächsten Stunden einfach nur genießt und nicht an die Hochzeit denkst. Wir haben frei!“
Sie nickte lächelnd. „Einverstanden. … Und verrätst du mir jetzt, was wir heute vorhaben?“
Er schüttelte den Kopf. „Wart’s ab.“
Dann sah er auf seine Uhr. „In einer viertel Stunde müssten wir auch aufbrechen.“
Victoria runzelte die Stirn. „Und was ist mit Lenir? Ich meine, wir waren doch heute mit ihm zum Essen verabredet.“
Jaromir winkte ab. „Ach, das läuft uns schon nicht weg. Ich habe Lenni gesagt, dass er uns für nächste Woche einen neuen Termin geben soll. Er schien nicht gerade traurig darüber zu sein.“
Sie frühstückten in Ruhe zu Ende. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen und die Luft roch nach Sommer. Victoria fand es herrlich, endlich mal wieder ohne offizielle Termine im Nacken hier zu sitzen.
Als Jaromir aufstand, murmelte sie genießerisch: „Ach, eigentlich könnten wir auch hier bleiben und den ganzen Tag einfach nichts machen…“
Er antwortet lächelnd: „Glaube mir, Kleines, das willst du nicht!“ Dann griff er nach ihrer Hand und führte sie in die Garage zum Aston Martin.
Sie fuhren schon eine Weile auf der A7 Richtung Süden und Victoria grübelte: „Also fliegen werden wir heute wohl nicht, sonst wärst du hier abgefahren.“
Jaromir grinste. „Nein, Fliegen steht nicht auf dem Programm. Wir sind heute mal ganz Mensch.“
Jetzt wurde sie neugierig, denn «ganz Mensch» waren sie zuletzt gewesen, als Jaromir für sie noch Herr Professor Custos Portae gewesen war. Und das lag bummelig dreieinhalb Monate zurück.
Es wäre für sie ein Leichtes gewesen, das Ziel in seinen Gedanken zu finden, aber er gab sich solche Mühe, sie zu überraschen und sie respektierte seine Privatsphäre. Sie lehnte sich zurück und genoss die Fahrt.
In Hamburg verließ Jaromir die Autobahn und fuhr quer durch die Stadt. Vor ihrem Studium war Victoria eine echte Landpflanze gewesen. Sie hatte Hamburg trotz der geringen Entfernung von Glückstadt nur sehr selten besucht und kannte sich hier überhaupt nicht aus.
Jaromir lächelte still. „Ich freue mich schon riesig auf all die Sachen, die wir in den nächsten Jahrzehnten gemeinsam entdecken werden. Es gibt soooo vieles, was ich dir zeigen möchte!“
Sie lächelte zurück. „Mir war gar nicht bewusst, dass du dich so gut in unserer Welt auskennst. ... Aber eigentlich ist das nur logisch. Schließlich bist du 233 Jahre alt und hast unter uns Menschen gelebt.“
Sie sah ihn interessiert an. „Haben wir uns in den letzten Jahrhunderten tatsächlich so rasant verändert, wie die Geschichte uns weismachen will?“
Er nickte. „Ja, das habt ihr. Ich bin immer wieder erstaunt über eure Wandelbarkeit. Jeder einzelne Mensch verträgt nur ein gewisses Maß an Veränderung, aber wenn man mehrere Generationen zusammennimmt, dann ergibt das ein gewaltiges Potenzial.“
Sie unterhielten sich angeregt, bis Jaromir seinen Sportwagen parkte.
Victoria hatte keinen blassen Schimmer, wo sie waren. Sie konnte Wasser hinter dem Parkplatz glitzern sehen und über eine Brücke fuhr gerade ein Zug.
Jaromir stieg aus, öffnete zuvorkommend ihre Tür und half ihr beim Aussteigen. Dann nahm er sie lächelnd bei der Hand und zog sie zu einem großen Backsteingebäude am Rande des Parkplatzes.
Das Gebäude war alt. Victoria schätzte, dass es irgendwann in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts errichtet worden war. Schließlich konnte sie das Schild lesen, das über dem Eingang prangte: «Deichtorhallen».
Sie wurde ganz aufgeregt. „Ist das nicht der Ausstellungsort für Fotografie?“
Jaromir lächelte. „Ob es DER Ausstellungsort ist, weiß ich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass es hier aktuell eine sehr schöne Ausstellung zur zeitgenössischen Fotografie gibt.“
Victoria strahlte. „Cool! Da wollte ich immer schon hin!“
Sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Ich weiß…“
Die Ausstellung nahm Victoria gefangen. Sie fotografierte selbst gern. Sie hatte nie einen Kurs gemacht und knipste einfach intuitiv. Als Laie hatte sie von der analogen Technik keine Ahnung. Ihre kleine Ixus machte alles automatisch, wenn sie wollte. Manchmal nahm sie manuelle Einstellungen vor und probierte herum, aber eigentlich bräuchte sie jemanden, der ihr erklärte, welche Einstellung zu welchem Ergebnis führte. Dann würde es bestimmt noch mehr Spaß machen. „Die Künstler hier beherrschen jedenfalls
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