Machtlos
wollte es unbedingt live sehen.
Am Donnerstagmorgen war Victoria schon beim Frühstück ganz zappelig.
Jaromir grinste nur. „Hey Vici, das ist echt keine große Sache. Wahrscheinlich bist du enttäuscht, denn es gibt fast nichts mehr zu sehen.“
In diesem Moment betrat Lenir den weißen Salon und holte die zwei ab. Lenni war heilfroh, dass Victoria wegen des Tores so aufgeregt war. Sie und Jaromir hatten ihm für den vergangenen Sonntag ein gemeinsames Essen angedroht, bei dem Victoria mit Sicherheit seine Gefühle für Kerstin gesehen hätte. Doch durch die ganze Hochzeitsplanerei war das zum Glück ins Wasser gefallen und er würde die beiden jetzt ganz sicher nicht daran erinnern. Also erzählte er auf dem Weg zur Uni ausführlich über die verschiedenen Tore, die er in seinem Leben gesehen hatte.
Heute fuhren sie ausnahmsweise mit Jaromirs schwarzer Mercedes M-Klasse, da der Aston Martin für drei Personen doch sehr eng war.
Victoria hörte Lenir aufmerksam zu, während Jaromir hinter dem Steuer saß. Als sie auf dem Parkplatz der mathematischen Fakultät ausstiegen, wandte sich Victoria an Jaromir: „Mann, dein Kumpel ist ja ganz schön redselig. Unser Lenni will partout verhindern, dass wir ihn noch mal auf Kerstin ansprechen…“
In Gedanken lachte Jaromir amüsiert. „Und dafür ist er sogar bereit, einen Fachvortrag über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Tore der nördlichen Hemisphäre zu halten. Wenn ich das vorhin richtig gesehen habe, dann hat er sich eigens für diese Autofahrt vorbereitet, damit ihm der Gesprächsstoff nicht ausgeht. Mann, ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals so viel Fleiß bei Lenni erleben würde!“
Victoria grinste. „Na, dann lassen wir ihn doch im Glauben, dass wir das Date vergessen haben … Und wenn wir wieder zu Hause sind, nageln wir ihn auf einen neuen Termin zum Essen zu Dritt fest.“
Ihr Gefährte lachte innerlich. „Nein, was kannst du fies sein.“
Sie lächelte still. „Ich bin nicht fies. Ich finde Lennis Ausführungen wirklich interessant und will doch nur, dass seine Mühe nicht umsonst war.“
Die Universität war wie ausgestorben – klar, es waren Semesterferien.
Sie gingen gemeinsam in den Keller. Jaromir zog seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und öffnete die Tür zu einem Lagerraum. Er drückte auf den Lichtschalter und an der hohen Decke flammten etliche Leuchtstoffröhren auf, die den großen Raum aber nur notdürftig ausleuchteten. Victoria sah eine lange Reihe von Regalen, in denen sich Bücher und Unmengen gebündelte Papiere stapelten. Jaromir nickte in deren Richtung und sagte: „Da liegen die alten Klausuren und Diplomarbeiten der letzten Jahrzehnte.“
Victoria bekam große Augen. „Was würde Falk dafür geben, hier mal ein paar Nächte verbringen zu können… Dann hätte er für den Rest seines Studiums ausgesorgt.“
Jaromir lächelte sie an. „Das kann ich mir gut vorstellen. Der Knabe ist mit allen Wassern gewaschen und lässt nichts unversucht. Allerdings rechnet er nicht damit, dass ich jedes Jahr komplett neue Aufgaben stelle.“
Sie lachte. „Ja DU machst das wohl. Aber was ist mit all den anderen Profs? Ich bin mir sicher, dass die viele ihrer Prüfungsaufgaben mehrfach verwenden.“
Er nickte. „Das bemängle ich auch immer wieder bei unseren Fachkonferenzen. Aber wer hört schon auf einen so jungen Professor wie mich.“
Nun mischte sich Lenir ein. Er machte ein mitleidiges Gesicht. „Mensch, Vici, denk doch auch mal an uns arme Studenten. Nicht jeder ist so begabt wie du. Wir müssen auch sehen, wo wir bleiben.“
Jaromir grinste hinterhältig. „Ja, sicher. Deine Klausuren waren auch nicht gerade fehlerfrei. Hast du an dem Tag geschlafen oder kennst du dich wirklich nicht mit Geometrie aus? Du hast gerade mal so bestanden und bei den anderen Klausuren scheint es auch nicht viel besser gelaufen zu sein, wie mir meine Kollegen berichteten.“
Lenir grinste achselzuckend. „Ich muss meine Rolle als Student doch glaubwürdig spielen und einen Überflieger haben wir in unserer Clique ja schon.“ Bei den letzten Worten zwinkerte er Victoria zu.
Aber die hatte dem Wortgefecht der beiden Schwarzen gar nicht richtig zugehört. Sie stand im Gang und blickte sich mit zusammengekniffenen Augen um. Sie suchte das Tor.
Jaromir trat neben sie und zeigt auf die freie Fläche im hinteren Bereich des Raumes. „Mach die Auren sichtbar. Dort hinten kannst du das Tor erkennen, wenn du ganz genau
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