Machtrausch
Sekretariat Nagelschneider bat ihn, um Punkt neun beim Finanzvorstand zu erscheinen. Er spürte einen Anflug von Panik in sich aufwallen, glaubte sich in einem komplizierten Labyrinth ohne Ausgang, in dessen Gängen blutrünstige Monster ihm nachjagten. Sich an der heißen Kaffeetasse mit beiden Händen wärmend, versuchte er sich in jenen beherrschten, ruhigen Zustand zurückzubringen, den er die nächsten Tage so dringend benötigen würde. Er begann seine Mails zu überfliegen und blieb an einem hängen, in dem Kroupa, der österreichische Schuegraf-Chef, mit Riesenverteiler eine knapp fünfzigseitige PowerPoint-Datei mit einem Vorschlag zum weiteren Vorgehen des Programms zur Effizienzsteigerung im Vertrieb verschickte. Anton bemerkte, dass er gar nicht auf dem offiziellen Verteiler stand und Kroupa ihm die Datei nachträglich und gesondert zugeschickt hatte. Mit einem Zitat versehen, ansonsten ohne jeglichen Kommentar: »Wer den Frieden stört, der mache sich auf den Krieg gefasst !« Eine offene Kampfansage des Österreichers und diesmal bestimmt nicht von Wilhelm Busch. Eher von Machiavelli, vielleicht aus der ›Geschichte von Florenz‹. Anton spürte, wie ihm vor Ärger das Blut in den Kopf stieg. Er blätterte die Datei am Bildschirm schnell durch, und sofort fielen ihm zwei Dinge auf, die ihm, unter normalen Umständen, den Tag versaut hätten. Zum einen gab es in zahlreichen Formulierungen, so auch im Zeitplan auf der vorletzten Seite, deutliche Hinweise darauf, dass alle Ergebnisse aus den Vorarbeiten von Glock und seinen Kollegen aus der Unternehmensstrategie angezweifelt wurden und man vor das eigentliche Projekt nochmals eine ausführliche Analysephase schalten wollte. Und zweitens gab es ein Diagramm, welches besagte, dass die vorliegende Datei das Ergebnis von Abstimmungen zwischen dem Österreichchef sowie seinem Kollegen aus Italien war. Niemand sonst war einbezogen worden. Kroupa nahm sich die Freiheit, die Beschlüsse der Konferenz letzter Woche, die immerhin der Finanzvorstand dieser Firma, Nagelschneider, abgesegnet hatte, schlicht zu ignorieren. Weder hatte man Peter Frey, den UK-Chef, wie vereinbart eingebunden, noch ihn, Dr. Anton Glock. Und zu allem Überfluss zweifelte man die Analysen der Vorphase an – jene, die Nagelschneider explizit gelobt hatte! – und dehnte das Projekt in die Länge, obwohl in der Sitzung ein schnelles Vorgehen beschlossen worden war, um dem weiteren Verfall von Marktanteilen zügig entgegenzutreten. Was das bedeutete, war klar: Kroupa suchte die gezielte Konfrontation mit Nagelschneider, indem er dessen Entscheidungen ignorierte. Glock machte schnell einen Ausdruck der wesentlichen Seiten, um sie mit in das Gespräch mit Nagelschneider nehmen zu können.
»Heute gibt es Wichtigeres zu besprechen als die Starallüren eines wildgewordenen Alpenbewohners !« , winkte Nagelschneider ab. Sein wütender Gesichtsausdruck und ein mit zahlreichen Anmerkungen und Blitzen markierter Ausdruck der PowerPoint-Datei von Kroupa, der ganz oben auf seinem Schreibtisch lag, widerlegten diese Behauptung. Die Unterlagen lagen direkt neben einem Foto in silbernem Ständer, das den Vorstand im Kreise seiner zwei Söhne und der Tochter zeigte. Letztere hatte Anton seinerzeit auf Nagelschneiders Dinnerparty kennen gelernt und war beeindruckt gewesen. Die Frau hatte den ganzen Abend über erfrischend viel und laut gelacht. Auf eine äußerst ansteckende Weise. Leider hatte das Lachen zumeist dem blonden Österreichchef, Kroupa, gegolten, der aus unerfindlichen Gründen ebenfalls zu den Gästen gehört hatte und jetzt so viel Ärger machte. Nagelschneider räusperte sich neben ihm und seine Gedanken schnellten in die Gegenwart zurück. Glock war so klug, das Thema Vertriebseffizienzprogramm sofort fallen zu lassen. Also setzte er sich auf seinen Stammplatz in Nagelschneiders schwarzlederner Besprechungsecke und lehnte sich, scheinbar entspannt, zurück. Glock sah seinen neuen Chef erwartungsvoll an.
»Der tragische Tod von Röckl zwingt uns zu raschem Handeln. Übrigens …«, Nagelschneider blickte Glock mit seinen aquamarinblauen Augen direkt an, »… Sie wissen vermutlich, dass man auf den Gängen munkelt, Ihr jugendlicher Ehrgeiz sei nicht ganz unschuldig an Röckls Ableben?! Ich hielte es für klug, wenn Sie dies einfach so im Raume stehen ließen, haben Sie verstanden ?«
»Nein, habe ich nicht .«
»Sagen wir es einmal so: Bei gewissen Kreisen im Unternehmen verschafft
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