Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
getrennt hatte, war er ihnen mit einigem Abstand auf der Straße gefolgt; nachdem er gesehen hatte, dass sie in der Croix rouge verschwanden, hatte er kehrtgemacht und die ganze Nacht über einem Plan gebrütet.
Am nächsten Tag gegen fünf betrat er die Küche des Gasthofs, die Kehle wie zugeschnürt, die Wangen bleich, doch mit jener hasenfüßigen Entschlossenheit, die nichts aufhalten kann.
»Monsieur ist nicht da«, antwortete ein Dienstbote.
Das schien ihm ein gutes Zeichen. Er ging hinauf.
Sie war über sein Kommen nicht verwundert; im Gegenteil, sie entschuldigte sich sogar, weil sie vergessen hatte, ihm zu sagen, wo sie logierten.
»Oh! das habe ich geahnt«, erwiderte Léon.
»Wie?«
Er behauptete, er sei vom Zufall, durch einen Instinkt zu ihr geführt worden. Sie musste lächeln, und sogleich erzählte Léon, um seine Dummheit auszubügeln, er habe den ganzen Vormittag damit verbracht, in sämtlichen Hotels der Stadt nach ihr zu suchen.
»Sie haben sich also fürs Hierbleiben entschieden?« fügte er hinzu.
»Ja«, sagte sie, »und ich habe einen Fehler begangen. Man darf sich nicht an unmögliche Vergnügungen gewöhnen, wenn einen tausend Pflichten erwarten …«
»Oh! Ich kann mir denken …«
»Eben nicht! denn Sie sind nun mal keine Frau.«
Freilich, auch die Männer hatten ihre Sorgen, und so begann das Gespräch mit einigen philosophischen Betrachtungen. Emma verbreitete sich des längeren über das Elend irdischer Zuneigungen und die ewige Einsamkeit, in welcher das Herz gefangen bleibt.
Um sich hervorzutun oder aus naiver Nachahmung ihrer Melancholie, die ansteckend wirkte, erklärte der junge Mann, er habe sich während seiner gesamten Studienzeit furchtbar gelangweilt. Die Prozessführung war ihm zuwider, andere Aufgaben lockten ihn, und seine Mutter hörte nicht auf, ihn zu quälen, in jedem Brief. Denn immer genauer benannten alle beide, je länger sie miteinander sprachen, die Gründe ihres Leids, und sie gerieten während dieser sich steigernden Herzensergüsse ein wenig in Erregung. Zuweilen aber scheuten sie vor der völligen Offenlegung eines Gedankens und versuchten einen Satz zu finden, der ihn dennoch ausdrücken konnte. Sie beichtete keineswegs ihre Leidenschaft für einen anderen; er sagte nicht, dass er sie vergessen hatte.
Vielleicht entsann er sich nicht mehr seiner Soupers nach dem Ball, mit den Débardeuses; und sie erinnerte sich wohl nicht an ihre einstigen Rendezvous, wenn sie frühmorgens durchs Gras lief, zum Schloss ihres Liebhabers. Die Geräusche der Stadt drangen kaum bis zu ihnen; und das Zimmer schien eigens so klein, damit ihr Alleinsein noch trauter war. Emma, im Frisiermantel aus Barchent, hatte ihren Chignon gegen die Rückenlehne des alten Sessels gelegt; die gelbe Wandtapete bildete hinter ihr eine Art Goldgrund; und ihr bloßer Kopf war verdoppelt im Spiegel, mitsamt dem weißen Scheitel in der Mitte und den Ohrläppchen, die unter ihren breiten Haarstreifen hervorlugten.
»Aber verzeihen Sie mir«, sagte sie, »was für ein Fehler! ich langweile Sie mit meinen ewigen Klagen!«
»Nein! nie und nimmer!«
»Wenn Sie wüssten«, fuhr sie fort, zur Decke aufblickend mit ihren schönen Augen, aus denen eine Träne kullerte, »was ich mir alles erträumt hatte!«
»Und ich erst! Oh! was habe ich gelitten! Oft stürzte ich hinaus, lief umher, irrte über die Quais und betäubte mich im Lärm der Menge, die fixe Idee aber, die mich verfolgte, ich wurde sie nicht los. Auf dem Boulevard gibt es bei einem Kunsthändler einen italienischen Stich, er zeigt eine Muse. In eine Tunika gehüllt, schaut sie hinauf zum Mond, Vergissmeinnicht im aufgelösten Haar. Irgendetwas trieb mich unablässig dorthin; stundenlang habe ich davorgestanden.«
Dann, mit bebender Stimme:
»Sie war Ihnen ein wenig ähnlich.«
Madame Bovary drehte den Kopf zur Seite, damit er das Lächeln nicht sah, das unwiderstehlich um ihre Lippen spielte.
»Oft«, fuhr er fort, »habe ich Ihnen Briefe geschrieben, die ich anschließend zerriss.«
Sie erwiderte nichts. Er sprach weiter:
»Ich malte mir bisweilen aus, ein Zufall werde Sie hierher führen. Ich meinte, Sie an irgendeiner Straßenecke zu erkennen; und ich verfolgte alle Fiaker, aus deren Tür ein Shawl flatterte, ein Schleier so wie Ihrer …«
Sie schien entschlossen, ihn reden zu lassen und nicht zu unterbrechen. Mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf betrachtete sie die Rosette auf ihren Pantöffelchen und machte
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