Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
ist es, welcher der Frau jene Festigkeit gibt, die bewirkt, dass sie sich in die tausend kleinen Dinge des Lebens fügt, dass sie Gott berichtet, was sie leidet, und ihn um die Gnade bittet, ihre Pflicht zu erfüllen. Diese Religion, meine Herren, das ist das Christentum, das ist die Religion, die eine Verbindung herstellt zwischen Gott und dem Menschen. Indem das Christentum zwischen Gott und uns eine Art von vermittelnder Macht einsetzt, wird Gott für uns zugänglicher und dieses Gespräch mit ihm leichter. Dass sich auch an die Mutter desjenigen, der Gottmensch wurde, die Gebete der Frau richten, darin sehe ich noch nichts, was die Reinheit oder die religiöse Heiligkeit oder das Gefühl selbst beeinträchtigt. Wo aber fängt die Beeinträchtigung an? Um die Religion allen Veranlagungen anzupassen, bringt man allerhand kümmerliche, armselige, schäbige kleine Dinge hinein. Der Prunk der Zeremonien, anstatt jener große Prunk zu sein, der unsere Seele erfasst, dieser Prunk verkommt zu einem kleinen Geschäft mit Reliquien, Amuletten, kleinen lieben Herrgöttern, kleinen lieben Marien. Woran, meine Herren, findet der Verstand neugieriger, leidenschaftlicher, zarter Kinder Gefallen, der Verstand junger Mädchen vor allem? An all diesen verblassten, abgeschwächten, armseligen Bildern des religiösen Geistes. Sie basteln sich kleine Religionen der Andacht, kleine Frömmigkeiten der Zuneigung, der Liebe, und anstatt in ihrer Seele das Gefühl Gottes zu haben, das Gefühl der Pflicht, geben sie sich Träumereien hin, kleinen Andachtsübungen, kleinen Frömmigkeiten. Und dann kommt die Poesie, und dann kommen, man muss es einfach sagen, tausend Gedanken an Nächstenliebe, Zuneigung, mystische Liebe, tausend Formen, die die jungen Mädchen irreführen, die die Religion versinnlichen. Diese armen Kinder, von Natur aus leichtgläubig und schwach, finden an all dem Gefallen, an der Poesie, an der Träumerei, anstatt sich etwas Vernünftigem und Strengem zu widmen. Darum gibt es auch viele sehr fromme Frauen, die überhaupt nicht religiös sind. Und wenn der Wind sie fortbläst vom Weg, auf dem sie gehen sollten, finden sie, anstatt Kraft, nur allerlei Sinnlichkeiten, die sie fehlleiten.
Ah! Sie haben mich angeklagt, im Gemälde der modernen Gesellschaft das religiöse Element mit dem Sensualismus vermischt zu haben! Klagen Sie doch die Gesellschaft an, in der wir uns befinden, aber klagen Sie nicht den Mann an, der wie Bossuet ruft: Erwachet und hütet euch vor der Gefahr! Aber den Familienvätern zu sagen: Hütet euch, das sind keine guten Gewohnheiten, die ihr euren Töchtern gebt, in diesen ganzen Mystik-Gemischen ist etwas, das die Religion versinnlicht; dies zu sagen heißt, die Wahrheit sagen. Gerade darum klagen Sie Flaubert an, gerade darum rühme ich sein Verhalten. Ja, er hat gut daran getan, auf diese Weise die Familien vor den Gefahren der Schwärmerei bei den jungen Frauen zu warnen, die Gefallen finden an kleinen Andachtsübungen, anstatt sich einer starken und strengen Religion zu widmen, die ihnen am Tag der Schwäche Halt gäbe. Und jetzt werden Sie sehen, woher das Erfinden kleiner Sünden kommt, »im Geflüster des Priesters«. Lesen wir auf Seite 30.
»Sie hatte Paul und Virginie gelesen, und sie hatte geträumt von dem Bambushäuschen, dem Neger Domingo, dem Hund Fidèle, vor allem aber von der süßen Freundschaft eines liebevollen kleinen Bruders, der einem Beeren holt von großen Bäumen, höher als Kirchtürme, oder barfuß über den Sand läuft und ein Vogelnest herbeiträgt.«
Ist das lasziv, meine Herren? Weiter.
DER HERR STAATSANWALT : Ich habe nicht gesagt, dass diese Stelle lasziv ist.
RECHTSANWALT SENARD: Verzeihen Sie bitte, aber genau in dieser Stelle haben Sie einen lasziven Satz entdeckt, und Sie konnten ihn nur lasziv finden, weil Sie ihn herausgelöst haben aus dem, was davor und was danach stand:
»Anstatt der Messe zu folgen, betrachtete sie in ihrem Buch die von Himmelsblau umrandeten Heiligenbildchen, die als Lesezeichen dienen, und sie liebte das kranke Schaf, das von spitzen Pfeilen durchbohrte Heiligste Herz Jesu oder den armen Heiland, der auf dem Weg unter seinem Kreuz zusammenbricht. Sie bemühte sich, zur Kasteiung einen ganzen Tag nichts zu essen. Sie suchte in ihrem Kopf nach irgendeinem Gelübde, das sie hätte erfüllen können.«
Vergessen Sie das nicht; wenn man bei der Beichte kleine Sünden erfindet und in seinem Kopf nach irgendeinem Gelübde sucht, das man
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