Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
…«
»Ach! schon wieder«, sagte Rodolphe. »Immer die Pflichten, sie öden mich an mit diesen Wörtern. Nichts als ein Haufen alter Esel in Flanellwesten und Betschwestern mit Fußwärmern und Rosenkränzen, die uns von früh bis spät in die Ohren singen: ›Die Pflicht! die Pflicht!‹ Zum Teufel! Pflicht heißt, das Große empfinden, das Schöne lieben, und heißt nicht, alle Normen der Gesellschaft hinnehmen, mitsamt allen Schändlichkeiten, die sie uns aufzwingt.«
»Und doch …, und doch …«, hielt Madame Bovary entgegen.
»Nein, nein! warum gegen die Leidenschaften wettern? Sind sie nicht das einzig Schöne auf Erden, Quelle des Heldentums, der Begeisterung, der Poesie, der Musik, der Künste, schlichtweg von allem?«
»Aber man muss sich doch«, sagte Emma, »ein wenig an die öffentliche Meinung halten und ihrer Moral gehorchen.«
»Ja! aber es gibt deren zwei«, erwiderte er. »Die kleine, die überkommene, die der Menschen, sie ändert sich ständig und zetert so laut, zappelt ganz unten, spießig wie diese Versammlung von Trotteln, da, vor Ihren Augen. Aber die andere, die ewige, sie ist um uns und über uns, wie die Landschaft, die uns umgibt, und der blaue Himmel, der über uns strahlt.«
Monsieur Lieuvain hatte sich eben mit seinem Taschentuch den Mund gewischt. Er hob wieder an:
»Und wozu sollte ich Ihnen hier, meine Herren, den Nutzen der Landwirtschaft auseinandersetzen? Wer stillt denn unsre Bedürfnisse? Wer sorgt für unser Auskommen? Ist es nicht der Landwirt? Der Landwirt, meine Herren, der mit emsiger Hand die fruchtbaren Furchen unserer Äcker besät und das Korn gedeihen lässt, welches, zermahlen, mit Hilfe wohldurchdachter Gerätschaft zu Pulver verarbeitet wird, herausrieselt unter dem Namen Mehl und hernach, in die Städte befördert, alsbald anlangt beim Bäcker, der ein Nahrungsmittel daraus bereitet für Arm wie für Reich. Ist es nicht wiederum der Landwirt, der für unsere Kleider seine üppigen Herden Fett ansetzen lässt auf den Weiden? Denn wie sollten wir uns kleiden, denn wie sollten wir uns ernähren ohne den Landwirt? Und ist es überhaupt nötig, meine Herren, Beispiele von so weit herzuholen? Wer hat nicht ein ums andere Mal nachgegrübelt über die große Bedeutung jenes anspruchslosen Tiers, Zierde unserer Höfe, das ein weiches Kissen liefert für unsere Nachtlager, sein köstliches Fleisch für unsere Tische und obendrein seine Eier? Doch es würde kein Ende nehmen, wollte ich nacheinander die verschiedenen Erzeugnisse aufzählen, mit denen eine wohlbestellte Erde, einer generösen Mutter gleich, ihre Kinder versorgt. Hier ist es der Rebstock; anderswo sind es die Apfelbäume für den Cidre; dort der Raps; ein Stück weiter der Käse; und der Flachs; meine Herren, vergessen Sie mir nicht den Flachs! der in den vergangenen Jahren eine beachtliche Entwicklung erfahren hat und auf den ich in ganz besonderer Weise Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte.«
Er brauchte gar nichts zu lenken: denn alle Münder der Menschenmasse standen weit offen, als wollten sie seine Worte trinken. Tuvache, neben ihm, lauschte mit aufgerissenen Augen; Monsieur Derozerays schloss von Zeit zu Zeit sachte die Lider; und ein Stück weiter hielt der Apotheker, mit seinem Sohn Napoléon zwischen den Beinen, die gewölbte Hand hinters Ohr, damit ihm ja keine Silbe entging. Die übrigen Mitglieder der Jury wiegten bedächtig das Kinn auf ihren Westen, als Zeichen der Zustimmung. Die Feuerwehrmänner am Fuß der Tribüne stützten sich auf ihre Bajonette; und Binet verharrte reglos, Ellbogen nach außen gewinkelt, Säbelspitze in der Luft. Er hörte vielleicht, doch sehen konnte er nichts, das Visier seines Helms rutschte ihm bis auf die Nase. Sein Leutnant, der jüngste Sohn des Herrn Tuvache, übertrumpfte ihn freilich; er trug ein Ungetüm, das auf seinem Kopf schwankte und den Zipfel eines Baumwolltuchs hervorschauen ließ. Er lächelte darunter mit kindlicher Sanftmut, und auf seinem blassen Gesichtchen, über das Schweißtropfen kullerten, lag ein Ausdruck von Lust, Erschöpfung und Schläfrigkeit.
Der Platz war bis zu den Häusern voller Leute. Aus allen Fenstern lehnten Menschen, unter allen Türen standen sie, und Justin, vor der Auslage der Apotheke, schien ganz versunken in die Betrachtung dessen, was er sah. Trotz der Stille verlor sich Monsieur Lieuvains Stimme in der Luft. Sie drang in Satzfetzen herüber, unterbrochen vom Knarzen der Stühle in der Menschenmenge; dann
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