Madame Bovary
gab, in Zukunft
mit aller Ruhe über den Strang hauen zu können, wie man zu sagen
pflegt. In der Tat machte sie nunmehr den ausgiebigsten Gebrauch
davon. Sobald sie Lust verspürte, Leo zu sehen, fuhr sie unter
irgendeinem Vorwand nach Rouen. Da dieser sie an solchen Tagen
nicht erwartete, suchte sie ihn in seiner Kanzlei auf.
Die ersten Male war ihm das eine große Freude, aber allmählich
verhehlte er ihr die Wahrheit nicht. Seinem Chef waren diese
Störungen durchaus nicht angenehm.
»Ach was, komm nur mit!« sagte sie.
Und er verließ ihretwegen seine Arbeit.
Sie sprach den Wunsch aus, er solle sich immer in Schwarz
kleiden und sich eine sogenannte Fliege stehen lassen, damit er
aussähe wie Ludwig der Dreizehnte auf dem bekannten Bilde. Er mußte
ihr seine Wohnung zeigen, die sie ziemlich armselig fand. Er
schämte sich, aber sie achtete nicht darauf und riet
ihm, Vorhänge zu kaufen, wie sie welche
hatte. Als er meinte, die seien sehr teuer, sagte sie lachend:
»Ach, hängst du an deinen paar Groschen!«
Jedesmal mußte ihr Leo genau berichten, was er seit dem letzten
Stelldichein erlebt hatte. Einmal bat sie ihn um ein Gedicht, um
ein Liebesgedicht ihr zu Ehren. Aber die Reimerei lag ihm nicht,
und er schrieb schließlich ein Sonett aus einem alten Almanach
ab.
Er tat das keineswegs aus Eitelkeit. Er kannte kein andres
Bedürfnis, als ihr zu gefallen. Er war in allen Dingen ihrer
Ansicht und hatte stets denselben Geschmack wie sie. Mit einem
Worte: sie tauschten allmählich ihre Rollen. Leo wurde der feminine
Teil in diesem Liebesverhältnisse. Sie verstand auf eine Art zu
kosen und zu küssen, daß er die Empfindung hatte, als sauge sie ihm
die Seele aus dem Leibe. Es steckte, im Kerne ihres Wesens
verborgen, eine eigentümliche, geradezu unkörperliche Verderbnis in
Emma, eine geheimnisvolle Erbschaft.
Kapitel 6
Wenn Leo nach Yonville kam, um Emma zu besuchen, aß er häufig
bei dem Apotheker zu Mittag. Aus Höflichkeit lud er ihn ein, ihn
nun auch einmal in Rouen zu besuchen.
»Gern!« gab Homais zur Antwort. »Ich muß sowieso einmal
ausspannen, sonst roste ich hier noch ganz und gar ein. Wir wollen
zusammen ins Theater gehen, ein bißchen kneipen und ein paar
Dummheiten loslassen!«
»Aber Mann!« mahnte Frau Homais besorgt. Die undefinierbaren
Gefahren, denen er entgegenlief, ängstigten sie im voraus.
»Was ist da weiter dabei? Hab ich meine Gesundheit nicht schon
genug ruiniert in den fortwährenden Ausdünstungen der Drogen? Ja,
ja, so sind die Frauen! Vergräbt man sich in die Wissenschaften, so
sind sie eifersüchtig; und will man sich gelegentlich in
harmlosester Weise ein bißchen erholen, dann ists ihnen auch wieder
nicht recht. Aber lassen wirs gut sein! Rechnen Sie auf mich! In
allernächster Zeit tauch ich in Rouen auf: und dann wollen wir mal
zusammen eine Kiste öffnen!«
Früher hätte sich Homais gehütet, einen derartigen Ausdruck zu
gebrauchen, aber seit einiger Zeit gefiel er sich ungemein darin,
den jovialen Großstädter zu spielen. Ähnlich wie seine Nachbarin,
Frau Bovary, fragte er den Adjunkt auf das neugierigste nach den
Pariser Sitten und Unsitten aus. Er begann sogar in seiner
Redeweise den Jargon der Pariser anzunehmen, um den Philistern zu
imponieren.
Eines Donnerstags früh traf ihn Emma zu ihrer Überraschung in
der Küche des Goldnen Löwen im Reiseanzug, das heißt, in einen
alten Mantel gemummt, in dem man ihn noch nie gesehen hatte, eine
Reisetasche in der einen Hand, einen Fußsack in der andern. Er
hatte sein Vorhaben keinem Menschen verraten, aus Furcht, die Kundschaft könne an seiner
Abwesenheit Anstoß nehmen.
Der Gedanke, die Orte wiedersehen zu sollen, wo er seine Jugend
verlebt hatte, regte ihn sichtlich auf, denn während der ganzen
Fahrt redete er in einem fort. Kaum war man in Rouen angekommen, so
stürzte er aus dem Wagen, um Leo aufzusuchen. Dem Adjunkt half kein
Widerstreben: Homais schleppte ihn mit in das »Grand Café zur
Normandie«, wo er, bedeckten Hauptes, stolz wie ein Fürst eintrat.
Er hielt es nämlich für höchst provinzlerhaft, in einem
öffentlichen Lokal den Hut abzunehmen.
Emma wartete drei Viertelstunden lang auf Leo. Schließlich eilte
sie in seine Kanzlei. Unter allen möglichen Mutmaßungen, wobei sie
ihm den Vorwurf der Gleichgültigkeit und sich selber den der
Schwäche machte, verbrachte sie dann den Nachmittag, die Stirn
gegen die Scheiben gepreßt, im Boulogner Hofe.
Um zwei Uhr saßen Leo und Homais immer
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