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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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setzten die rangniederen Offiziere zusammen mit den Soldaten ihr Leben aufs Spiel, und es kam der Tag, an dem bis auf einen sämtliche Offiziere des Regiments tot oder verwundet waren.
    Am Ende eines Tages, an dem sämtliche Ausfälle missglückt waren, sah Joe bei Sonnenuntergang aus der Ferne eine Karawane von Maultieren zu den Hügeln zurücktrotten, offenbar mit Getreidesäcken beladen. Als sie näher kamen, erkannte er, dass sie mit Leichen beladen waren. Mit gesenkten Köpfen standen die Maultiere da, während der Regen an ihnen herunterrann und tote Offiziere von ihren Sätteln gezogen und Seite an Seite auf den Boden gelegt wurden, ein menschliches Floß, das auf der durchtränkten Erde trieb. Erschöpft und schweigend standen die Männer neben den Leichen, als warteten sie darauf, dass der Gottesdienst begann. Zu gegebener Zeit würde man ihnen öffentliche Anerkennung zuteilwerden lassen, Reden schwingen und Trauerfeiern abhalten. Das hier war die Wirklichkeit.
    Ein GI bückte sich linkisch, um einem Soldaten auf die Schulter zu klopfen, ein anderer strich über den Ärmel eines toten Offiziers. Joe beugte sich nach unten und zog die zerfetzte Jacke eines jungen Leutnants gerade, der aus Boston stammte und ihm gestern erklärt hatte, eines Tages werde er hierher zurückkehren, um sich dieses Land in Ruhe anzusehen. Man hörte leise Verwünschungen, die Männer verfluchten den Feind, verfluchten das Schicksal, verfluchten Gott. Einige fluchten einfach nur: ihre Art, sich zu verabschieden. Kaum waren die Toten in aller Eile verscharrt worden, zog das Bataillon weiter.
    Im August überquerten sie nicht weit von Florenz den Arno, und als sie eine Hügelkuppe erreichten, schlug Otishi Joe auf den Arm und deutete auf eine in der Ferne aufragende weiße Steinsäule mit zierlichen Bögen, in denen sich die Sonne fing: der Schiefe Turm von Pisa. Keiner verlangsamte das Tempo: Wie Florenz war Pisa nur ein weiterer Punkt auf der Landkarte.
    Am Stadtrand stießen sie auf abgeschiedene, geschützt hinter Mauern und Eisentoren liegende Villen, einige davon mit gepflasterten Höfen. Hier hatte der Krieg einen Bogen geschlagen und die Straße intakt gelassen. Die Häuser sahen heruntergekommen und vernachlässigt aus, der Stuck blätterte ab, die Fensterläden hingen schief in den Angeln. Aus einer zersprungenen Terrakottavase auf einem Torpfosten quollen vertrocknete Erde und abgestorbene Wurzeln, Überreste einstiger Pracht und Privilegien.
    Als der Konvoi weiter vorrückte, sich durch die schmalen Straßen der Stadt schob, offenbarte sich das ganze Ausmaß der Zerstörung: Häuser lagen in Schutt und Asche, dazwischen klaubten Frauen in staubigen schwarzen Kleidern schweigend Steine auf, stellten sich vor einem Geschäft mit zerschossener Fassade um Brot an. Von mächtigen Mauern, die jahrhundertelang der Zerstörung widerstanden hatten, waren nur noch Trümmer übrig. Ein Bild der Niederlage.
    Hin und wieder machten sie in einer Stadt halt, in der ihnen Sonnenschein und junge Italienerinnen in Sommerkleidern kurze Zeit eine Begegnung mit dem normalen Leben erlaubten. Die Überlebenden hießen die Soldaten willkommen, sie hungerten und verkauften alles, wofür man vielleicht etwas zu essen bekommen konnte. Frauen vornehmer Herkunft boten den Offizieren ihre Liebesdienste an, vorher gab es einen aperitivo . Auf die GIs warteten junge Mädchen, die lächelten und ihnen einen weichen Körper und ein paar Minuten des Vergessens boten, einen raschen Koitus in einem Hinterzimmer oder im Park als Gegenleistung für Nylonstrümpfe, Essensrationen, Zigaretten und Dankbarkeit. Manchmal bekamen sie auch ein paar Dollar.
    Versprechen wurden gegeben: »Wenn das alles hier vorbei ist, Rosina, dann komme ich zurück.«
    Was man als Annehmlichkeit empfindet, hängt von den Umständen ab: Ein wackliger Metallstuhl auf dem Bürgersteig, ein verrosteter Cafétisch und ein Glas saurer Wein können mitunter als Luxus erscheinen.
    Joe schloss die Augen und spürte, wie die Sonne seine Knochen wärmte. Seine Rippen schmerzten, seine Füße brannten, und es rumorte irgendwie seltsam in seinen Eingeweiden. Er dehnte widerstrebende Muskeln und streckte die Beine aus, ließ sich einen Moment gehen, treiben, aber es war nicht gut, sich treiben zu lassen, dabei stiegen nur unerwünschte Gedanken an die Oberfläche. Als sie vorhin an einer einst herrschaftlichen Villa vorbeigekommen waren, hatte Joe einen flüchtigen Blick in ein leeres Zimmer

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