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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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Schwärze gezerrt, aus dem alles verschlingenden Schlund des Flussbetts gezogen, liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Uferstreifen, keucht, würgt, Wasser läuft an ihm herab, während ihm eine unsichtbare Gestalt immer wieder zwischen die Schulterblätter schlägt und schreit: »Spuck’s aus, verdammt noch mal, spuck’s aus!«
    Blind und Wasser spuckend wird Joe in die Höhe gezerrt. Mit schlammverschmierten Händen versucht er, sich den Schlamm aus den Augen zu wischen. Rings um ihn Männer, die rennen, schreien, zu Boden stürzen, fluchen. Rauch hüllt ihn ein wie ein Leichentuch.
    Er blinzelt, sieht seinen schemenhaften Retter an. »Otishi?«
    »Mensch, du hast dir wirklich Zeit mit dem Atmen gelassen!«
    Wasser tröpfelt aus Joes Mund und Nase. Seine Lunge sticht, und er beugt sich nach vorne, hustet flüssigen Schlamm aus, versucht, Luft zu holen …
    »Was ist passiert?«
    »Granate. Ein bisschen zu nah.«
    Sie stolpern die Böschung hinauf zu den Bäumen, Otishi zerrt Joe mit sich. Steif und unbeholfen schleppen sie sich lächerlich langsam, übertrieben vorsichtig hinauf: lebensgroße Lehmfiguren, die Stiefel schwer vom gelben Schlamm, der sie von Kopf bis Fuß bedeckt. Nur die Augen und die dunklen, verzerrten Münder verraten, dass sie Menschen sind.
    Später, nach Einbruch der Finsternis, lassen sie sich nebeneinander auf den Boden fallen, um auf die Offensive am nächsten Morgen zu warten.
    »Otishi, du hast es doch nicht so mit körperlicher Betätigung«, sagt Joe erschöpft. »Du kannst nicht mal schwimmen. Du liest immer nur irgendwelche bescheuerten Geschichtsbücher. Wie kommt es …«
    »Sag nichts gegen Geschichte. Man kann viel daraus lernen.«
    »Beispielsweise, wie man jemanden vor dem Ertrinken bewahrt?«
    »Weißt du, Napoleons Männer haben ihre Bajonette zu Haken gebogen, um ihre Kameraden aus dem Nil zu fischen …«
    »Und du hast gedacht, wenn die Franzosen das konnten …«
    »Genau. Und es hat funktioniert. Halbwegs. Ich konnte das dämliche Bajonett nicht verbiegen, deshalb habe ich dich gewissermaßen harpuniert. Und, hast du dein Leben an dir vorbeiziehen sehen, wie es immer heißt?«
    »Nur Wasser.«
    Einen Moment spürt Joe wieder die Kraft, mit der es ihm die Lunge zusammenpresst. Die ungeheure Traurigkeit.
    »Mein Vater ist ertrunken.«
    Er würde gern sagen: »Du hast mir das Leben gerettet«, aber das klänge kitschig. Außerdem ist es offensichtlich.
    »Du warst ziemlich schnell.«
    »Nur praktisch. Ein Krieg hat nichts Theoretisches, man tut, was man tun muss. Und zwar schnell. Das stammt übrigens von Napoleon.« Otishis Augen schimmern dunkel in seinem schlammverkrusteten Gesicht, seine Zähne hell.
    Im Ausbildungslager hatte man ihnen die neun Prinzipien der Kriegsführung beigebracht: Ziel, Angriff, Masse, Verhältnismäßigkeit der Mittel, taktische Bewegung, Befehlseinheit, Sicherheit, Überraschung und Einfachheit.
    In der Theorie schön und gut. Aber wie Otishi und Napoleon bereits wussten und Joe jetzt lernte, hatte der Krieg nichts Theoretisches. Krieg ist die Kugel, die deinen Arm durchdringt, Krieg ist das Krachen des Geschützfeuers, das dir das Trommelfell zerreißt, der Geruch von verwesendem Fleisch. Fußbrand.
    Hier gab es dichte Wälder, Nebel, rasiermesserscharfe Felsblöcke, unerbittlichen Regen. Joe erlebte mit, wie Männer, die halb tot und blutend alles still ertrugen, vor Schmerz laut aufschrien, wenn der Fußbrand jeden Schritt zur Qual machte. Wenn man ständig in undichten, löchrigen Stiefeln knöcheltief durch aufgeweichte Erde stapfen musste, konnte man die Füße nicht vor Infektionen schützen. Das Brennen, die Schwellungen waren Warnzeichen, die zu spät kamen: zuerst die Taubheit, dann der Schmerz, die Füße verfärbten sich blau, die Zehen nässten wie offene Blasen. Mit Glück und trockenen Socken gingen die Schwellungen zurück. Wenn nicht, verformten sich die Zehen wie bösartige Geschwüre, wurden brandig, verfaulten und fielen irgendwann ab, wenn der Soldat seine Stiefel auszog. Manchmal wurde amputiert. Jetzt verspürte Joe ein Stechen und Brennen in den Zehen. Bald würden die Schwellungen folgen. Die Kampfstiefel eines GIs waren nicht für diese eisige Amphibienwelt gemacht.
    Das Erste, was Joe sah, als er über den halb in einem Granattrichter begrabenen toten deutschen Soldaten stolperte, war das dunkle Blut, die herausgequollenen Eingeweide. Dann entdeckte er die Stiefel. Festes Leder. Genagelte Sohlen. Wasserdicht. Joe

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