Madame Butterflys Schatten
geworfen, dort, wo früher ein Lüster seine kristallenen Flügel ausgebreitet hatte, hing nur noch das Kabel von der Decke. Am Fenster stand eine Frau und starrte auf die Straße, ohne etwas zu sehen. Ein leeres Zimmer, eine einsame Frau, die auf etwas wartete. Gab man irgendwo anders, an einem anderen Ort, Frauen den Befehl, ihr Land gegen die vordringenden amerikanischen Feinde zu verteidigen? Griffen sie zu Waffen, verbarrikadierten sie ihre Häuser – zerbrechliche Bauwerke, nicht aus Steinen und Ziegeln errichtet, sondern aus sehr viel empfindlicheren Materialien? Wie verbarrikadierte man ein Haus aus Papier und Holz?
Joe trank einen Schluck von seinem Wein. Er unterschied sich kaum von Essig, trotzdem wärmte er sein Inneres, schenkte ihm Trost.
Kapitel 50
CHO-CHO IST OFT hungrig, aber sie ist auch dankbar: Wenigstens ist sie nicht in Tokio, das von amerikanischen B-29 mit Brandbomben praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde. Hier wachsen Pflanzen und singen Vögel. Aber sie hat Hunger, ständig.
Wehmütig erinnert sie sich an ein haiku , das vor nahezu zweihundert Jahren von einer Frau verfasst wurde, aber manche Dinge ändern sich nie – beispielsweise das Verlangen in einer Zeit des Mangels.
Eine Welt
Wo man weißen Reis isst
Umgeben vom Duft der Pflaumen
Weißer Reis! Eine Erinnerung. In diesen Tagen müssen sie sich mit Gerste und Kartoffeln begnügen, mit Unkraut. Bucheckern sammeln und mahlen.
In öffentlichen Bekanntmachungen hieß es, bei der Zubereitung von Klößen lasse sich das Mehl gut im Verhältnis vier zu eins mit Sägemehl strecken. Wieder einmal aßen sie Seidenraupen, sammelten im Meer Algen, klaubten Schnecken auf, fingen Frösche und Heuschrecken. Es gab keinen Fisch mehr. Eier existierten nur noch in der Erinnerung, die Hennen waren zu mager und entkräftet, um welche zu legen, bevor sie unters Messer kamen und Fleisch, Blut, Innereien und Knochen hergaben. Es hieß, man könne auch die Federn schmoren.
Seit Jahren wurden sie von der Regierung schikaniert. Ministerielle Erlasse regneten auf das Land herab wie früher überreife Früchte von den Bäumen: Einer dieser Erlasse verbot die Herstellung und den Verkauf von Luxusgütern, und über Nacht verschwand aus den Regalen eine ganze Palette von Artikeln, die den Begüterten das Leben angenehmer gemacht hatten. Cho-Cho legte ihre feinen Seidenkimonos zusammen, strich mit der Hand zärtlich über jedes einzelne Stück, als streichelte sie ein Kind, bevor das Licht gelöscht wurde. Dann verstaute sie sie zusammen mit ihren in ein Tuch geschlagenen samtweichen Schuhen in einer Truhe.
»Ach, Suzuki«, seufzte sie, »meine schönen französischen Schuhe!«
Wie hätte sie sie jetzt noch tragen können? Holzschuhe waren für »patriotisch« erklärt worden, und man sah auf den Straßen nichts anderes mehr, wenn die Leute auf hölzernen Plateausohlen patriotisch klappernd zur Arbeit gingen.
Sie vermisste ihre eleganten Schuhe, das sinnliche Vergnügen, weichen Stoff auf der Haut zu spüren, empfand es in gewisser Weise als persönliche Strafe. Sie war erschrocken über ihre Niedergeschlagenheit: War sie denn so oberflächlich, so genusssüchtig, dass ihr das Fehlen von ein bisschen Luxus so zu schaffen machte? Suzuki hörte man nie klagen, sie hatte nicht einmal gejammert, als sie Witwe geworden war, aber andererseits war Suzuki auch stets beschäftigt, fand immer neue Mittel und Wege, um die Lebensdauer von Kleidungsstücken zu verlängern, stopfte, flickte, reichte Kleider der älteren Geschwister an die jüngeren weiter, kochte oder putzte oder machte sich Sorgen um das eine oder andere ihrer Kinder. Ohne solche Zerstreuungen konnte Cho-Cho nur über sich selbst nachdenken, und sie stellte fest, dass in Zeiten wie diesen Solipsismus nicht weiterhalf.
Es sollte noch schlimmer kommen: Als Restaurantbesitzer konnte man im Gefängnis landen, wenn die Preise auf der Speisekarte eine genau festgelegte Höhe überstiegen. Die Zubereitung eines Gerichts kostete sie jetzt mehr, als sie vom Gast dafür verlangen konnte. Sie schloss das Restaurant.
Als der Winter eisige Kälte mitbrachte, kletterte auf dem Schwarzmarkt von Nagasaki der Preis für Kohle auf das Anderthalbfache des offiziellen Preises. »Das Problem dabei ist«, erklärte Suzuki, »dass es nirgendwo Kohle zum offiziellen Preis gibt.«
Mehr als alles andere vermisste Cho-Cho Henry, sie vermisste ihre Gespräche, ihre Auseinandersetzungen, die Briefe aus Amerika, die
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