Madame Butterflys Schatten
weitere Angriffe bevor. Möglicherweise wurden aber auch Gespräche fortgesetzt, wurden irgendwo im Zentrum der Macht Entscheidungen gefällt. Möglicherweise – ein zögerlicher Gedanke – trachtete man trotz der martialischen Durchhalteparolen nach Frieden. Wie lange konnten sie noch durchhalten? Wie viele Menschen würden noch geopfert werden?
In der Zwischenzeit schob sie ein neues Blatt Papier in ihre Schreibmaschine und begann einen neuen Brief, der bei den übrigen in der verzierten Metallschatulle auf dem Schreibtisch landen würde.
Mein lieber Sachio …
Am 6. August geschah in Hiroshima etwas Unvorstellbares. Sie lauschte fassungslos den Berichten: Das war kein Luftangriff, das war die Apokalypse. Nagasaki füllte sich mit Menschen, die auf der Flucht vor dem Albtraum waren, ihre Körper hatten entsetzliche Brandwunden, manche von ihnen waren blind, andere verstümmelt, bereits halb tot. Im übrigen Land fielen keine Bomben, sondern Flugblätter vom Himmel: Der amerikanische Präsident warnte das japanische Volk, wenn es nicht auf die gestellten Bedingungen eingehe, dann könne es einen Regen der Zerstörung aus der Luft erwarten, wie man ihn auf dieser Erde noch nicht gesehen habe.
Über Nagasaki wurden keine Flugblätter abgeworfen. Infolge irgendeines bürokratischen Irrtums wurde die Stadt nicht gewarnt. In Nagasaki ging das Leben weiter wie gewohnt.
Am Morgen des 9. August erklang kurz vor acht Uhr Fliegeralarm. Cho-Cho traf Vorbereitungen, das Suzuki gegebene Versprechen zu halten und in den Keller zu gehen, es tauchten jedoch keine Flugzeuge auf, und eine halbe Stunde später ertönte erneut die Sirene. Entwarnung.
Sie wässerte die Pflanzen, die in der Hitze dahinwelkten. Sie tippte die letzte Seite eines Briefes an Joey und legte ihn in die Metallschatulle. Dann wusch sie ein paar Kleidungsstücke, wrang sie aus und warf sie in eine Emailleschüssel. Trotz des bedeckten Himmels würden sie im Freien rasch trocknen.
Es war kurz vor elf. Sie blieb einen Moment auf der Schwelle stehen und beobachtete einen Vogel, der vergeblich nach Würmern suchte. Selbst Würmer waren inzwischen Mangelware und fanden Verwendung in Kochtöpfen. Sie war gerade dabei, ein Handtuch aufzuhängen, als sie das Motorengeräusch eines näher kommenden Flugzeugs hörte. Sie blickte zum Himmel und erkannte zwei Bomber – inzwischen wusste jeder, wie eine B-29 aussah. Sie waren noch ein ganzes Stück entfernt und flogen sehr hoch, vermutlich ein Aufklärungsflug. Als kleines Zeichen des Widerstands beschloss sie, weiter Wäsche aufzuhängen. Falls die Flugzeuge tiefer herunterkamen, würde sie in den Keller gehen.
Sie warf das Handtuch über die Leine und blickte über ihre Schulter, als das Flugzeug einen dunklen, länglich runden Gegenstand fallen ließ wie eine Henne ein Ei. Es folgte ein Krachen. Ein Blitz, der den Himmel zerriss. Die Welt erbebte. Wurde weiß.
Kapitel 53
EINES ABENDS, ALS sie noch das Haus mit der elektrischen Küche besessen hatten, als es ihnen noch gut gegangen war, sie dafür aber von Zweifeln anderer Art heimgesucht wurden, hatten sie und Ben dagesessen und geredet, und Nancy hatte seine Hand genommen und gesagt: »Wir haben das Richtige getan, nicht wahr, Ben? Joey ist glücklich hier. Was für ein Leben hätte ihn dort erwartet?«
Bens Antwort schien jedoch zu einem anderen Gespräch zu gehören: »Wie muss das für sie gewesen sein, nichts über ihn zu wissen?«
Damals hat sie nicht über diese Frage nachdenken wollen. Jetzt, im Rückblick, weiß sie es besser. Wie wäre es für sie gewesen zu wissen, dass Joey irgendwo da draußen in der Welt war, darin aufwuchs, von ihr verändert wurde, und gleichzeitig nichts über ihn zu wissen?
Er nennt sich jetzt Joe, aber für sie ist er noch immer Joey; in ihren Träumen ist er das blonde Kind ihrer Erinnerung, sie sieht ihn vor sich, wie er in einem Park herumrennt oder nach einem Regenguss durch eine Pfütze auf sie zustapft und die nach allen Seiten spritzenden Wassertropfen in der Sonne glitzern.
Sie kann ihre Träume nicht beeinflussen, ebenso wenig, wie sie ihr Herz beeinflussen kann, das sich zusammenzieht, als er jetzt aus dem Zug steigt und auf sie zukommt, während der Zug immer noch mehr Soldaten ausspuckt, die auf dem überfüllten Bahnsteig von Müttern und Ehefrauen, Freundinnen und Schwestern erwartet werden.
Seine goldenen Locken sind verschwunden, brutal geschoren, sein Schädel ist mit feinen Stoppeln bedeckt, er wirkt
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