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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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Lieblingsgegenstände vor. Als die Reihe an Joey kam, zeigte er der Klasse eine Fotografie: »Das ist ein Schnappschuss von meinem Dad, als er bei der Marine war. Er kann nach den Sternen navigieren. Bevor er zur Marine kam, hat er viele Schwimmwettbewerbe gewonnen.«
    Die Lehrerin merkte auf. »Er war Schwimmer? Ist dein Vater etwa Benjamin Pinkerton, Joey?« Der Junge nickte. »Aber der war ja ein echter Champion! Ein Held!« Sie wandte sich an die Klasse: »Ben Pinkerton hat auf Anhieb bei den Amateurmeisterschaften in fünfzig Meter Freistil gesiegt. Er hat auch in Europa Wettkämpfe gewonnen, wir dachten alle, er werde bei den Olympischen Spielen mitmachen!« Sie sah zu Joey hinunter. »Was ist passiert?« Sie merkte, dass die Frage irgendwie anklagend klang. »Ich meine, was ist passiert, dass er das Schwimmen an den Nagel gehängt hat, Joey?«
    Der Junge zuckte mit den Achseln. »Darüber hat er nie geredet.«
    »Schade. Richte ihm aus, dass er an der Schule seines Sohnes eine große Verehrerin hat. Ich wäre stolz, wenn ich ihm beim nächsten Elternabend die Hand schütteln dürfte. Gut, wer ist dran?«
    »Sie will dir die Hand schütteln. Sie sagt, du warst ein Champion.«
    »Das ist schon lange her.«
    Joey sah zu, wie sein Vater den Schmorbraten tranchierte. Seine Bewegungen waren bedächtig; er war ein Mann, der sich stets Zeit ließ. Der Mann auf der Fotografie hatte blonde Haare, seine Schultern waren breiter als seine Hüften, und seine Zähne strahlten so weiß wie seine Uniform. Joey erinnerte sich, dass er seinen Vater vor langer Zeit in dieser Uniform gesehen hatte, ein gleißendes Weiß im Schatten seiner Erinnerung.
    Er hatte mittlerweile etwas zugenommen, und seine Haare waren dunkler als auf der Fotografie, eine Art stumpfes Senfgelb. Seine Augen wirkten ebenfalls stumpf. Am liebsten hätte Joey wie seine Lehrerin gerufen: Was ist passiert, Dad? Ihm war klar, was sie eigentlich gemeint hatte: Wie kommt es, dass Benjamin Pinkerton kein Champion mehr ist? Aber Nancy bemerkte, wie Joey seinen Vater anstarrte, und sagte mit scharfer Stimme, er solle sich die Hände waschen.
    Die Fotografie lag auf dem Beistelltischchen, und als ihr Blick darauf fiel, erinnerte sie sich an den Tag, an dem sie aufgenommen worden war. An diesem Tag war noch ein zweites Foto gemacht worden, auf dem sie beide zu sehen waren: Ben in seiner Uniform und Nancy in einem minzgrünen Kleid mit herzförmigem Ausschnitt und schwingendem Rock, wie sie ihren Verlobten anlachte. Er würde bald wieder in See stechen, und sie dachte vergnügt an ihr kleines Geheimnis: wie erstaunt er sein würde, wenn ihr Dampfer in Nagasaki anlegte, wo sie ihn überraschen wollte. Auf dem glänzenden Fotopapier sahen sie beide jung und sorglos aus, wie sie da lachend im hellen Sonnenschein standen. Danach kam die Seereise und alles andere. Damals war sie das letzte Mal richtig glücklich gewesen, wurde ihr jetzt klar.
    Joey kehrte mit gewaschenen Händen zum Tisch zurück.
    »Dad …«
    Pinkerton wusste, was er wollte, und kam der Frage zuvor.
    »Ich war gut. Sehr gut sogar. Die Wettkämpfe waren das reinste Kinderspiel für mich. Bei einer dieser Veranstaltungen habe ich diesen anderen Schwimmer kennengelernt, Weissmüller hieß er, der hat jeden Wettbewerb gewonnen, bei dem er an den Start ging, war Schwimmer des Jahres, Weltspitze. Inzwischen ist er in Hollywood berühmt geworden. Er hat dort in einem Film mitgespielt, aber ich kenne ihn noch von damals, von vorher, und da hat er mir erzählt, dass er jeden Tag bis zum Umfallen trainiere; er müsse stundenlang schwimmen, sein Trainer sei Gott, und mit dem lasse sich nicht streiten. Ich war der Meinung, das Leben sei zu kurz für eine solche Schinderei. Und wenn ich nicht durchs Wasser schwimmen würde, dann würde ich eben darauf segeln!«
    Pinkerton wusste, dass er zu viel redete, dass er mehr verriet, als notwendig war, und gleichzeitig weniger, denn er erwähnte nichts von den Eltern, die das Schwimmen für eine nette Freizeitbeschäftigung gehalten hatten, aber nichts, womit sich ein junger Mann seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Sie hatten ihm eine Stelle in der Bank vorgeschlagen. Bens Entscheidung für die Marine hatte zum ersten richtigen Streit zwischen ihnen geführt. Er wandte sich schnell wieder von den unangenehmen Geschehnissen in seiner Vergangenheit ab, den falschen oder nicht getroffenen Entscheidungen. Irgendwann hatte er dann auch festgestellt, dass das Leben nicht zu

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