Madame Butterflys Schatten
beladen.«
»Ich geh’ nicht«, sagte er.
Er warf sich auf den Boden, machte sich schwer, krümmte sich zusammen, damit keiner auf die Idee kam, ihn aufheben zu wollen.
Sie ging wieder hinunter zu Ben, aber als sie ihm die Situation zu erklären versuchte, wurde er ungeduldig: Solcher Kinderkram war Nancys Sache.
»Hol ihn runter. Wenn er nicht hören will, dann gib ihm ein paar hinter die Löffel.«
»Ein paar hinter die Löffel geben?«
Langsam stieg Wut in Nancy auf, eine Mischung aus Erschöpfung, Groll und dem Gefühl, alleingelassen zu werden.
»Es ist dein Sohn«, sagte sie. »Hol du ihn runter.«
Ihre Beine mussten unter ihr nachgegeben haben, denn sie sackte auf der Veranda zusammen, ließ sich auf die Stufen sinken, ohne auf den Dreck und den Staub zu achten.
»Gib du ihm ein paar hinter die Löffel, wenn du meinst, dass das sein muss. Ich fang’ bestimmt nicht an, ihn zu schlagen.«
Ben ging die Treppe hinauf und kletterte die Leiter zum Dachboden hoch.
»Hallo, mein Junge.« Er sah hinüber zu dem Jungen, der sich auf dem Boden ganz klein zusammengekauert hatte, als wollte er in der Wand verschwinden. In der dämmrigen Ecke wirkte er weniger blond, und etwas an der Neigung seines Kopfes, wie er die Schulter hob, als er zu Ben aufsah, erinnerte diesen einen erschreckenden Moment lang an die Vergangenheit: Ben sah, dass er Cho-Chos Kind war.
Joey fing an zu weinen, dicke Tränen rollten ihm über die Wangen und fielen auf seine Knie.
Ben ging langsam zu ihm und hockte sich neben ihn, als wenn nichts wäre, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.
»Was ist los mit dir?«
»Stirbt Nancy?«, fragte Joey.
»Was?«
»Wenn wir von hier weggehen. Wird sie dann sterben?«
Nancy saß noch immer zusammengesunken und mit geschlossenen Augen auf den Verandastufen, als Ben wieder aus dem Haus trat und sich neben sie setzte.
»Er hat Angst, von hier wegzugehen.«
Sie öffnete die Augen. »Was?«
»Als er das letzte Mal von zu Hause wegmusste, hat man ihm gesagt, dass seine Mutter tot ist, und er hat sie nie wiedergesehen. Er hat Angst, dass dasselbe jetzt wieder passiert und er noch mal eine neue Mutter bekommt.«
Entsetzt spürte Nancy, wie die Vergangenheit sich vor ihr auftürmte und sie niederdrückte, eine Last, die sie tragen musste.
»O Gott.«
»Keine Sorge. Ich habe ihm gesagt, dass nichts dergleichen passieren wird.«
»Ben. Vielleicht haben wir Unrecht getan …«
Sie hörten Joey drinnen im Haus wie auf Samtpfoten die Treppe herunterschleichen.
»Ich habe ihm gesagt, dass er sich im Laster auf deinen Schoß setzen darf. Dass es dir gut geht, solange er bei dir ist.« Traurig fügte er hinzu: »Um mich schert er sich einen feuchten Kehricht.«
Kapitel 16
ALS JOEY FRAGTE, wohin sie fuhren, erklärte ihm Nancy, sie hätten ein neues Zuhause. Er werde in eine neue Schule gehen.
»Das ist wie ein Abenteuer. Es wird dir bestimmt Spaß machen.«
Die Mietwohnung war viel zu eng, aber Joey hatte immerhin ein eigenes Zimmer – oder etwas in der Art: ein mit einem Vorhang abgeteiltes Kämmerchen, in das gerade sein Bett passte, und darunter ein paar Kartons mit Spielsachen und Büchern.
Ben sah von der angeschlagenen Spüle zu dem kleinen Tisch; im Licht der nackten Glühlampe an der Decke trat jeder Kratzer hervor.
»Hier kann man nicht wohnen.«
»Vielleicht ist es ja nicht für lange.«
Es war ihm gelungen, den Laster zu behalten, mit dem er jetzt landwirtschaftliche Produkte, Maschinen und Warenlieferungen zwischen kleinen Lieferanten und Läden hin und her transportierte. Die Schlagzeilen klangen nicht mehr optimistisch, aber Ben bemühte sich, heiter zu klingen, wenn der Junge in Hörweite war.
»Es läuft gut«, sagte er. »Es läuft gut.«
Zum ersten Mal war er froh, dass sie nur Joey hatten, an den sie denken mussten. Er hatte eigentlich längst damit gerechnet, dass Nancy ihm ein Kind schenken würde, und war sich auch der unausgesprochenen Erwartungen ihrer Eltern bewusst. Jetzt aber, in Zeiten, in denen man neben all dem Schlechten auch etwas Gutes sehen musste, bedeutete es, dass ein Mund weniger zu füttern war.
Er hätte einen Drink brauchen können, aber genauso wenig, wie man eigene Entscheidungen treffen konnte, kam man an Alkohol heran: Die Prohibition war, wie er fand, noch nie eine gute Idee gewesen, aber beim gegenwärtigen Stand der Dinge machte das Alkoholverbot die Last nur noch schwerer, war sprichwörtlich der letzte Tropfen, der das Fass zum
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