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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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Überlaufen brachte. Er überlegte, irgendwann an einem schlechten Tag das Gesetz einfach zu brechen. Er fing an, mehr zu rauchen, hörte aber bald wieder damit auf: Zigaretten wuchsen auch nicht auf Bäumen.
    Im Kindergarten ihres Viertels kümmerte sich Nancy um kleine Kinder, deren Mütter arbeiten gingen. Ihre Haare wellten sich nicht mehr weich und glänzend bis zu ihren Schultern, sondern hingen glatt herunter, nachlässig hinter die Ohren geschoben, weil sie sie nicht mehr so oft wusch. Zum Tee gab es Kuchen aus einer Backmischung, und sie gewöhnten sich an den billigen Hackbraten, bei dem der Brotanteil fast höher war als der des Rindfleischs.
    Joey war nie ein lautes Kind gewesen. Er wurde noch stiller.
    Manchmal lag er im Dunkeln in seinem Kämmerchen und dachte an seine Mutter. Er fragte sich, was für ein Mensch sie gewesen sein mochte; er erinnerte sich nur an eine undeutliche Gestalt, eine Frau im Kimono, die sich leise über die Bodenmatten in einem Haus aus Holz und Papier bewegte, die ihm über den Kopf strich und ihn tröstete, wenn er weinte, und mit ihm am Meer spazieren ging. Ihr Gesicht aber sah er nicht vor sich, und auch ihre Stimme konnte er nicht mehr hören.
    Er erinnert sich an Geschrei, er presst die Hände auf die Ohren, um es von sich fernzuhalten. Aber wer schrie? Und warum? Er wusste nur noch, dass er weggebracht worden war.
    Im Hof vor der Schule wartete er am Maschendrahtzaun, bis Nancy von der Arbeit kam und ihn abholte.
    An einem Samstagnachmittag half er ihr, den Mittagstisch abzuräumen, und sah sich dabei in dem Zimmer um, das als Küche und Wohnzimmer diente.
    Über der Spüle hing Wäsche von der Decke, weiße Wäsche, die grau blieb, egal, wie sehr Nancy rubbelte, Hemden, die sie auswrang und die dennoch tropften und die Luft klamm machten.
    Joey sagte leise: »Es ist schrecklich hier.«
    »Ja«, stimmte Nancy ihm zu. »Das ist es.«
    Sie betrachtete die Reste einer Corned-Beef-Kasserolle auf dem Tisch. Wenngleich sie dafür sorgte, dass er genug aß, sah er dünner aus.
    »Was hältst du davon, wenn ich uns einen Heidelbeerkuchen backe? Wir gehen wie früher in die Heidelbeeren.«
    Sie fasste einen Plan: Sie fuhren mit dem Bus in ihre alte Wohngegend und gingen den Rest der Strecke zu Fuß, wobei Nancy achtgab, dass sie nicht die Allee zu dem Haus nahmen, in dem sie glücklichere Zeiten verlebt hatten. Draußen am Stadtrand erreichten sie ein unbebautes Stück Land, auf dem früher dicke, saftige Heidelbeeren gewachsen waren, aber jetzt gab es dort keine wilden Blumen und Beeren mehr. Das Stück Land hatte sich verwandelt, windige Hütten waren zu sehen, Schlacke, Papierfetzen, die über die verwüstete Landschaft wehten. Die Brombeersträucher waren verschwunden, die Bäume auch, gefällt, um daraus Wände zu zimmern. Hunde hatten sich zu Rudeln zusammengerottet, die sich am Rand der Siedlung herumtrieben und Mülleimer nach Futter durchsuchten.
    Der Junge sah verwirrt zu Nancy auf: »Was ist hier passiert?«
    »Das sind Menschen, die ihre Häuser verloren haben, Joey. Sie wohnen jetzt hier.«
    Sie gingen weiter. Sie führte ihn zum Fluss, wo die Familie einmal einen Sonntagnachmittag verbracht und Eisvögel und Libellen beobachtet hatte, während an den Ufern Väter mit ihren Söhnen saßen und angelten. Mittlerweile waren die Ufer von Hütten gesäumt. Kaputte Laster ohne Räder lagen am Fluss wie die Wracks von Schleppkähnen.
    »Es gibt jetzt viele solche Orte«, sagte Nancy. »Die Leute nennen sie Hooverville, nach dem Präsidenten. Es ist ein Witz, nur ist er nicht lustig.«
    Die beiden musterten schweigend die windigen Bauten aus halb verrotteten Holzbrettern, Pappe und Alteisen. Aus Blechdosen zusammengebastelte Kamine ragten aus Teerpappedächern, über die Äste gelegt waren, damit sie nicht davonwehten. Es versetzte Nancy einen Stich, als sie an einigen Hütten improvisierte Türen sah, die im Wind quietschend auf und zu schlugen.
    Abgemagerte Frauen mit kohlschwarzen Augenringen beobachteten sie. Sie zwang sich, sich nicht sofort abzuwenden, sondern die aschgrauen Gestalten anzusehen, in deren Gesichtern die Scham eine unsichtbare Narbe hinterlassen hatte, und in ihnen ganz normale Leute zu erkennen, die einmal richtige Häuser besessen hatten; die Männer waren nach dem Frühstück zur Arbeit aufgebrochen, die Frauen hatten gelegentlich einen Strauß Blumen gekauft und auf das Fensterbrett gestellt. Jetzt waren sie keine normalen Leute mehr; sie waren durch

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