Madame Butterflys Schatten
Mangelernährung von Kleinkindern tun …«, und es stellte sich heraus, dass Nancy auf dem College Kurse in Ernährungswissenschaft belegt hatte.
»Nancy, das Civilian Conservation Corps möchte ein Lernprogramm für analphabetische Männer anbieten. Kennen wir jemanden, der …«
Hinterhältig: Sie wussten genau, dass sie ausgebildete Lehrerin war. Sie fing an, Kurse einzurichten, aber die politische Führung der Stadt war nicht gerade glücklich über die rooseveltschen Initiativen – »Lupenreiner Kommunismus! Sozialistisches Verhängnis!«
Nancy berichtete zu Hause von der Neuigkeit: »Der Bürgermeister weist die, wie er es nennt, ›Almosen der Regierung‹ zurück. Der Stadtrat erklärt, der Sozialwohnungsbau würde den Wert des Eigentums drücken …«
»Vorbei mit der guten Nachbarschaft«, kommentierte Louis trocken.
»Was ist mit dem Arbeitsförderprogramm?«, fragte Mary.
»Das gefällt ihnen auch nicht. Natürlich. Aber wir kämpfen weiter.«
Sie kam spät und erschöpft nach Hause und erzählte von ihrem Tag, während Mary ihr Abendessen aufwärmte und Louis Kaffee kochte. Nancy strahlte Begeisterung aus; sie hatte sich mit Hoffnung infiziert und gab sie nun weiter.
»Der Präsident beschafft Männern im ganzen Land Arbeit, sie wohnen kostenfrei in Lagern, bekommen zu essen und ein paar Dollar. Es ist wirklich ein Wunder!«
»Iss deinen Teller leer«, sagte Mary.
Tagsüber pflanzten die Männer vom Civilian Conservation Corps Bäume, schafften Ordnung in den Hüttensiedlungen, strichen Wände. Abends drückten sie wieder die Schulbank, große Männer hinter niedrigen Pulten, die gewissenhaft die Kunst des Schreibens erlernten und ihren Fäusten neue Fertigkeiten abrangen. Diese Männer – oder solche wie sie – hatte Nancy von der Veranda aus beobachtet, wie sie ohne Hoffnung, ohne Ziel vorbeigezogen waren, während Ben schon auf dem Weg nach Washington war.
»Langsam erinnern sie sich wieder daran, wie es ist, sich als Mensch zu fühlen …«
»Dein Kaffee wird kalt«, sagte ihr Vater und tätschelte ihr die Schulter.
Als er später ins Bett ging, sagte Louis: »Sie ist wie ein Kind, sie ist wie damals auf dem College – erinnerst du dich noch, als sie den Missionar kennengelernt hatte und unbedingt in eine von diesen Leprakolonien wollte?«
Erinnerst du dich noch, wie sie war, bevor sie Pinkerton geheiratet hat?, hatte er eigentlich sagen wollen.
Am nächsten Morgen brach sie noch vor dem Frühstück auf: Es gebe so viel zu tun, sie müsse mit so vielen Leuten sprechen, der Tag habe zu wenig Stunden, rief sie schon im Gehen. Keine Zeit, um herumzuhocken und zu grübeln, sie alle beträten Neuland: ein Riesendurcheinander, aber voller Hoffnung; Männer, die lesen und schreiben lernten, eine Zeitung für das Lager herausgaben, um Artikel, Geschichten, ja sogar Gedichte baten …
»Letzte Woche lautete die Schlagzeile: ›Haste mal ’n Gedicht übrig, Kumpel?‹ Reizend.«
»Und, habt ihr welche bekommen?«, fragte Mary.
»Wir konnten uns kaum retten. Die meisten sind ziemlich schlecht, aber darum geht es nicht.«
Nicht alle dieser verzweifelten Menschen waren des Lesens und Schreibens unkundige Arbeiter, einige von ihnen waren von hoch oben abgestürzt. Nancy hörte Geschichten von pleitegegangenen Unternehmen und gepfändeten Yachten; ein Fabrikbesitzer, den die Frau verlassen hatte, erzählte ihr: »Sie nahm ihre Diamanten und das Kind und ging nach Kanada.« Das Hauspersonal und der Pool-Reiniger waren schon lange weg. Er zuckte mit den Achseln.
»Ich hatte einen Chauffeur und zwei europäische Wagen.«
»Ich hatte eine elektrische Küche«, sagte Nancy.
Kapitel 23
DER BRIEF AUS Nagasaki war in ausgezeichnetem Englisch in gestochen scharfer Handschrift verfasst und an Mary gerichtet. Er stammte allerdings nicht von Henry.
Ganz unten auf der Seite, nach einem förmlichen Gruß, befand sich ein kleines, eckiges Siegel. Dann eine Unterschrift.
Nancy streckte die Hand aus und berührte das Blatt. Wie ein Blindgänger lag es zwischen ihnen auf dem Tisch, barg unter der harmlos wirkenden Oberfläche eine zerstörerische Zündkraft.
»Von wem kommt dieser Brief?«, fragte Mary erschrocken.
»Von Joeys Mutter«, sagte Nancy, erstaunt, dass ihr diese Worte über die Lippen kamen. »Sie heißt Cho-Cho. Das bedeutet so viel wie Schmetterling.«
»Aber ich dachte, sie wäre tot!« rief Mary. »Alle dachten, sie wäre tot!«
Nancy erinnerte sich an jenen ersten Tag in Nagasaki,
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