Madame Butterflys Schatten
amerikanischen Jungen, die hilflos und verwirrt in einem fremden Land gelandet waren, und einheimischen Frauen mit schlechtem Ruf stifte? Nancy habe sich tapfer gehalten, schrieb sie, aber ihr Leben sei zerstört.
Er hatte antworten wollen, hatte Seite um Seite mit bedächtigen, vernünftigen Erklärungen gefüllt und den Brief dann ebenso bedächtig zerrissen. Zu guter Letzt war er zu dem Schluss gelangt, dass zu viel Zeit vergangen sei, hatte Marys Brief in eine Schublade gelegt und den Schlüssel herumgedreht.
»Und haben Sie ihr geantwortet?«
Kopfschütteln.
»Ich denke, das sollten Sie tun.«
Seine Verblüffung war nicht zu übersehen.
»Sharpless-san, ich habe mein Kind verloren. Es fiele mir leichter weiterzuleben, wenn ich etwas über das Leben meines Sohnes wüsste, wenn ich wüsste, dass er wächst und gedeiht. Glücklich ist. Das würde mir helfen.« Sie hielt kurz inne. Berührte ihre Kehle. »Es würde mir helfen, wenn Sie Ihrer Schwester schreiben. Und sich nach Neuigkeiten erkundigen.« Erneutes kurzes Innehalten. »Über das Kind. Würden Sie das tun?«
Und so fing es an. Henry entwickelte zu Marys Überraschung auf einmal ein starkes Interesse an der Familie, erkundigte sich, wie es ihr und Louis ginge, erkundigte sich nach dem Wohlergehen seiner Nichte und dem des Kindes. Bei passender Gelegenheit bat er um ein Foto von Joey: »Sie wachsen ja so schnell. Ich sehe Nancy immer noch als kleines Mädchen vor mir.« Er brachte es allerdings nicht über sich, an Nancy zu schreiben: Die mysteriösen Ereignisse am Tag ihrer Abreise, ihm zu verschweigen, dass Cho-Cho auf dem Fußboden verblutete, obwohl sie es gewusst haben musste – all das hatte eine unüberwindliche Mauer zwischen ihnen errichtet.
Cho-Cho zuliebe schrieb er jedoch regelmäßig an seine Schwester, und sie schrieb zurück. In Nagasaki wurde nach und nach ein Album angelegt, das kleine, mit Datum versehene Schwarz-Weiß-Fotos enthielt – Joeys erstes Fahrrad … Joey mit Flöte bei einem Schulkonzert … bei der Verleihung einer Auszeichnung in Erdkunde …
So entstand für Cho-Cho auf Umwegen eine neue Bindung an ihren verlorenen Sohn – auf dem Papier.
Mary und Louis sprachen über Henrys plötzliche Veränderung und schrieben sie seiner Situation als alternder Junggeselle fern seiner Heimat und Familie zu. Seine Schwester empfand Mitleid mit ihm: Der arme Henry, natürlich vermisste er sie. In ihrem nächsten Brief schrieb sie, sie bete zu Gott, er möge ihm in diesem fremden, unchristlichen Land, in dem er gewiss sehr einsam war, ein wenig Freude schenken.
Deshalb schrieb Henry in seinen Briefen nach Hause nichts davon, als er Suzuki bat, seine Frau zu werden, und sie einwilligte.
Kapitel 27
SUZUKI ZÖGERTE, HENRYS Heiratsantrag anzunehmen. Sie verehrte ihn seit Jahren, so wie man einem unerreichbaren Gott huldigte. Es schien unvorstellbar, dass ein Mann wie er von einem Dienstmädchen auch nur Notiz nahm. Henry hatte sie jedoch von Anfang an als ebenbürtig behandelt. Sie verstanden einander. Er hatte Cho-Chos Vater gekannt und sich Sorgen um die Zukunft der Waise gemacht. Einmal hatte er zu Suzuki gesagt, wenn es ihm möglich gewesen wäre, das Mädchen nach dem Tod des Vaters zu adoptieren, wäre er ein zweiter Vater für sie gewesen. Suzuki sah jedoch, dass sich seine Gefühle mit der Zeit gewandelt hatten. Vielleicht noch bevor er selbst es wusste, war ihr klar geworden, dass sich Henry in ihre Herrin verliebt hatte.
Seit jenem Tag, an dem er mit Pinkerton in das kleine Haus über dem Hafen gekommen war, hatte Suzuki beobachtet, wie diese Zuneigung wuchs. Cho-Cho würde für Henry jedoch stets unerreichbar sein, und Suzuki sah sie wie drei Figuren auf einer imari -Vase in einem traurigen Kreistanz gefangen; sie waren miteinander verbunden und konnten doch nicht zueinanderkommen: Suzuki liebte Henry, der liebte Cho-Cho, die wiederum liebte Pinkerton, und daran würde sich nie etwas ändern.
Suzuki nahm Henrys Antrag an, weil sie Japanerin war und ebenso pragmatisch wie er: Sie gab sich mit dem Erreichbaren zufrieden. Und sie hatte Schuldgefühle, denn auch wenn ihr das große Glück verwehrt blieb, würde sie doch ein sehr viel erfüllteres Leben führen als Cho-Cho.
Suzukis Eltern waren zunächst misstrauisch gewesen; als sie den Konsul dann kennenlernten, stellten sie jedoch fest, dass er fließend ihre Sprache sprach, sich mühelos mit ihrer Kultur zurechtfand und ein – für einen Ausländer – recht
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