Madame Butterflys Schatten
ihrem amerikanischen Sohn. Sie hatte all das gehabt – eine Zeit lang.
Hinter ihnen erklangen Kinderstimmen, die Mädchen kamen zur Tür, um sich von ihrer Lieblingsbesucherin zu verabschieden. Cho-Cho umarmte sie der Reihe nach. Die Älteste hielt sie einen Moment länger im Arm.
»Wie geht es meiner klugen Maju? Was liest du gerade?«
Das Mädchen war so schmal wie Henry und hatte das ruhige, bedächtige Lächeln von Suzuki.
»Das Buch über das Mädchen aus dem Meer, das du mir mitgebracht hast.«
»Ah! Die kleine Meerjungfrau . Nun, sie hat wirklich eine schlechte Wahl getroffen, das arme Ding. Wir sprechen darüber, wenn ich das nächste Mal komme.«
Kapitel 30
BEINAHE TÄGLICH WURDEN weitere Einschränkungen verkündet, Opfer fürs Vaterland gefordert. Das Neueste war ein Stapel Flugblätter der Regierung, die Cho-Cho an ihre Gäste verteilen sollte und mit denen zur Enthaltsamkeit aufgerufen wurde: Luxus ist unpatriotisch .
Für jemanden, der ein Restaurant führte, war das keine besonders gute Parole.
»Da können sie ja auch gleich von mir verlangen, dass ich meine Gäste nach Hause schicke«, beklagte sie sich bei Henry. Er zuckte die Achseln.
»Die Liebesbeziehung mit Amerika ist in die Brüche gegangen. Deutschland wirkt dagegen so diszipliniert, das hat etwas Verführerisches.«
Es sollte noch schlimmer kommen. Als Henry wie jeden Tag auf einen Kaffee vorbeischaute, fand er eine verzweifelte Cho-Cho vor.
»Sie haben politische Versammlungen verboten. Sie sprechen von aufrührerischen Kundgebungen – und wenn sich Frauen treffen, ist das natürlich von vornherein aufrührerisch und ungesetzlich.«
Henry setzte zu ein paar mitfühlenden Worten an, aber sie hob abwehrend die Hand. Die Verordnung war ungerecht, deshalb hatten sie beschlossen, sie zu ignorieren.
»Ich vertraue das Restaurant heute Nachmittag den Kellnerinnen an. Ich gehe zu einer Versammlung.«
Als die Soldaten vor dem Versammlungssaal aufmarschierten, machten sich die Frauen auf eine Auseinandersetzung gefasst, möglicherweise würde es ein paar lautstarke Einschüchterungsversuche geben – ausreichend, um ein Treffen von Frauen zu sprengen. Die Soldaten hatten jedoch ganz spezielle Anweisungen: die Sprecherin verhaften, aus dem Saal schaffen, in einen Wagen verfrachten. Als die Zuhörerinnen dagegen protestierten, drangen die Soldaten in den Saal vor, um die Versammlung gewaltsam aufzulösen.
Die Frauen wurden wie Vieh auf die Straße getrieben, ihre Schreie vermischten sich mit den Rufen der Soldaten, die dieser Haufen sich ungebührlich betragender Frauen verwirrte; einige von ihnen trugen flatternde Kimonos, andere westliche Kleidung, die unanständig viel von ihren Armen und Beinen sehen ließ. Die Männer beschimpften die widernatürlichen Geschöpfe, umzingelten sie, brachten die bunten Farben allmählich in einem immer enger werdenden Ring aus khakifarbenen Uniformen zum Verschwinden.
Cho-Cho stand mit dem Rücken zur Wand, und während sie sich mit schützend vors Gesicht gehobenen Armen verteidigte, sich verbissen zur Wehr setzte, empfand sie einen schwindelerregenden Moment der Verbundenheit mit Pinkerton: Auch sie konnte von einem Knüppel oder einem Schlagstock getroffen und in den Fluss geworfen werden, der Urakami floss nur ein paar Meter weiter auf der anderen Straßenseite. Sie würde in dem grünen Wasser versinken, hinuntergezogen von ihren Kleidern, und das wirbelnde Wasser würde sie wieder mit Pinkerton vereinen.
Aus der wogenden Menge waren Schreie zu vernehmen, leuchtend rotes Blut auf der Straße schürte die Panik. Wie kann eine Menschenmenge Entscheidungen treffen?, schoss es Cho-Cho durch den Kopf. Wer übernimmt hier die Kontrolle?
Dann wurde sie zur Seite gestoßen, stürzte zu Boden, und der wuchernde Organismus wälzte sich an ihr vorbei. Stunden später taumelte sie in Henrys Haus und Suzukis weiche Arme. Wie dumm von ihr zu glauben, sie könnte eine Verbindung herstellen zwischen zwei Flüssen, zwei Seelen. Dieses Mal weinte sie um sich selbst.
Als ihre Wunden zu heilen begannen, nahm sie die Arbeit wieder auf: Sie musste dem Koch neue Anweisungen geben.
Politische Spannungen und Säbelgerassel hatten zu unlösbaren Konflikten geführt, der mit Unterbrechungen geführte Krieg mit China zog sich weiter in die Länge, und die Amerikaner verschärften ihre Sanktionen. Feindseligkeiten können in ganz erstaunlichen Bereichen Niederschlag finden. Cho-Cho überdachte ihren Standpunkt: In
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