Madame Butterflys Schatten
ihrem Restaurant wurde jetzt internationale Küche mit leicht nordeuropäischem Einschlag serviert, wie Henry feststellte.
»Wie ich sehe, gibt es keinen Apfelkuchen mehr. Aber Hauptsache, du verschwendest nicht länger Kobe-Rindfleisch an Hamburger-Süchtige.«
Das Geplänkel ging wie gewohnt weiter: Henry provozierte sie, Cho-Cho zerpflückte seine Argumente mit der in langen Jahren der Freundschaft erworbenen Übung von Stoß und Gegenstoß, scharfen Worten, die nie zu tief trafen, obwohl sie bei einem stummen Zuhörer unbeabsichtigt Schmerz hervorrufen konnten: Manchmal weinte Suzuki. Von diesen Momenten der Schwäche bekam niemand etwas mit, sie war hart gegen sich selbst und ließ sich nach außen hin nichts von ihrem Kummer anmerken. Warum sollte sie auch? Es gab keinen Grund, unglücklich zu sein: Henry liebte sie so, wie es eine Ehefrau erwarten durfte. Sie hatte ihre Töchter. Zu einer Zeit, in der die bittere und immer größer werdende Armut des Volkes auch sie hätte treffen können, hatte sie Dienstboten. Sie war privilegiert, behütet, es wäre undankbar gewesen, in Selbstmitleid zu baden, mehr zu wollen.
Ein einziges Mal überraschte Henry sie beim Weinen, aber sie fand beruhigende Worte: Frauen weinten nun einmal aus Tradition, erinnerte sie ihn. Der alte Ausdruck tsuyu bedeute nicht nur »Frauentränen«, sondern auch »Tau« – etwas völlig Natürliches. Glaubte er ihr? Ganz gewiss wollte er ihr glauben: Suzuki war ein unverzichtbarer Teil seines eigenen Glücks, und da war der Gedanke, sie könnte unglücklich sein, ganz unvorstellbar.
Kapitel 31
ALS KIND HATTE Nancy es immer kaum erwarten können, dass der Adventskalender auf dem Kaminsims aufgestellt wurde, da es ihr vorbehalten war, die Türchen mit den Bildern darunter zu öffnen, von denen sie jedes dem großen, glanzvollen Ereignis der Geburt Christi einen Schritt näher brachte. Mit Erstaunen hatte sie gehört, dass manche ihrer Klassenkameraden an den Adventssonntagen Schokolade und Bonbons bekamen, denn solche Maßlosigkeiten waren in ihrer methodistischen Familie stets verpönt gewesen.
Beim Krippenspiel in der Schule hatte sie für gewöhnlich einen Engel gespielt, eine gütige Nebenfigur, bis auf das eine aufregende Mal, als sie auserwählt worden war, mit grauer Perücke und Bart den Joseph zu geben. Weihnachten bedeutete ihr viel, und sie wollte es auch für Joey zu etwas Besonderem machen: Weihnachtslieder in der Kirche, eine in warmem Glanz erstrahlende Krippe … selbst in der schlimmsten Zeit schaffte sie es, einen Adventskalender, einen kleinen Christbaum und ein paar Kerzen zu beschaffen. Und die Geschenke, so bescheiden sie auch sein mochten, wurden in buntes, glänzendes Papier gewickelt.
Doch als sie an diesem frostigen Dezembersonntag in der Küche arbeitete, vergaß sie, dass der zweite Advent war. Ihr gingen alle möglichen anderen Dinge durch den Kopf: der sich verschlechternde Gesundheitszustand ihrer Mutter, Joey auf dem College, ein weiterer Brief aus Nagasaki, zusammen mit einem Foto, der nach einer Entscheidung verlangte. Sie lebte gleichzeitig in der Vergangenheit und in der Zukunft, die Gegenwart übersprang sie.
Normalerweise packte sie das Leben mit seinen Unzulänglichkeiten anders an, wich sie Problemen nicht aus. Doch hin und wieder – wenn sie zum Beispiel einen Umschlag mit bunten, fremdländischen Briefmarken darauf betrachtete, damit auf den Tisch klopfte und ihn in einer Schublade verschwinden ließ – dachte sie darüber nach, wie anders doch alles hätte sein können, wenn …
Ihr Vater saß neben dem Radiogerät und tat das, was er immer tat, wenn er Radio hörte: Er schnaubte, wenn er anderer Meinung war als der Sprecher, und summte bei den Melodien, die ihm gefielen, leise mit. Als die Musik unvermittelt verstummte, klopfte er gereizt auf das Gehäuse.
»Verflixter Kasten.« Das Gerät funktionierte jedoch einwandfrei – einen Moment später wurde die Stille von der Stimme des Radiosprechers mit einer Sondermeldung unterbrochen: Japanische Flugzeuge hatten Honolulu bombardiert.
Wenn sich Lois später an diesen Sonntagvormittag im Dezember erinnerte, davon erzählte, ihn erneut durchlebte, dann kam es ihr immer ein wenig wie eine Filmszene vor: eine Reihe langsamer Überblendungen, Häuser mit zugezogenen Vorhängen, ein ruhiger Tag, der gerade erst begonnen hatte, Menschen, die nichts ahnend ihren Träumen nachhingen. Pearl City schob sich neben dem Marinestützpunkt von Ford Island
Weitere Kostenlose Bücher