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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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mit vielen Facetten. Er merkte, dass das, was herauskam, zu simpel war, zu naiv. Er zuckte hilflos die Achseln.
    »Du weißt schon: Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?«
    »Ach ja«, sagte Louis. »Wenn wir schon dabei sind, dann sag ich dir mal, was ich von Anthropologie halte: viel Lärm um nichts!«
    Er versetzte seinem Enkel einen liebevollen Knuff gegen die Schulter. »War nur Spaß.«
    Von ihrem Schaukelstuhl am Fenster aus, wo sie an einer scheinbar niemals fertig werdenden Flickendecke nähte, sagte Mary sanft zu Joey: »Ich erinnere mich, dass du am Anfang nicht wusstest, was eine Zitrone ausquetschen bedeutet. Was ein Baseball-Handschuh ist. Ich für meinen Teil finde es faszinierend, wie sich Menschen verändern können.« Sie sah Joey über den Rand ihrer Brille an. »Aber ich bin auch keine Anthropologin.«
    Bei allem Genörgel und Geschnaube war Louis ungeheuer stolz auf Joey und hielt ihn insgeheim für den klügsten Jungen in ganz Oregon – selbst wenn er irgendwelchen Schwachsinn studierte.
    »Was mir Sorgen macht, ist der Krieg«, sagte er, nachdem Joey das Zimmer verlassen hatte. »Ich weiß, die Kämpfe finden weit weg statt, und es liegt ein ganzer Ozean dazwischen, aber Roosevelt scharwenzelt um Winston Churchill herum, als wäre er sein lange verschollener Bruder, was ich persönlich beunruhigend finde.«
    »Nancy arbeitet für die Demokraten, sie hält ihn für das Beste, was Amerika seit Erfindung des Dosenöffners passiert ist …«
    »Das könnte sich auch als Strohfeuer erweisen. Ich jedenfalls traue Roosevelt nicht, ich halte ihn für einen Heuchler und Schönredner, und Churchill traue ich schon gleich gar nicht: Es reicht nicht, eine amerikanische Mutter zu haben.«
    Mary griff nach dem nächsten sechseckigen Flicken und suchte die passende Stelle dafür.
    »Wenn wir in diesen Krieg verwickelt werden«, murmelte sie, »könnten sie Joey einziehen.«
    »Meinst du, das weiß ich nicht? Meinst du, ich will zusehen, wie sie unseren Jungen in einem Sarg nach Hause bringen?«
    »Aber mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Roosevelt ist ein schlauer Kopf.«
    »Das ist es ja, was mir Sorgen macht.«

Kapitel 29
    CHO-CHO HATTE IHRE grazile Gestalt behalten. Ihr Körper, einst zierlich und kindlich, später abgemagert und knochig, bildete eine anmutige Linie vom Nacken zu den Füßen, allerdings hatte ihre Haut den milchig weißen Schimmer verloren und zeigte jetzt eine wächserne Blässe. Sie war Mitte dreißig, aber das ironische Lächeln, der wissende Blick und die feinen Fältchen um die Augen ließen sie älter wirken. Erfahrung ist ein Alterungsprozess.
    Heute lag sie wieder einmal im Streit mit Henry. Sie stritten gern und oft miteinander, es war wie ein über die Jahre hinweg geführtes, nie abreißendes Gespräch, das mitunter zu einer heftigen Meinungsverschiedenheit führte und für gewöhnlich mit viel Gelächter endete.
    Cho-Cho hielt inzwischen keine Hand mehr vor den Mund, wenn sie lachte. Wie Henry zu sagen pflegte: »Diese Frauen haben dir den traditionellen Charme geraubt.«
    »Mein Lieber, du bist so nihonjin desu-ne .« Sie wechselte ins Japanische. »›Traditionell‹ ist lediglich eine andere Bezeichnung für ›unterdrückt‹. Und wer sind die Unterdrücker? Die Männer. Im Konfuzianismus heißt es, als gute Tochter soll die Frau ihrem Vater gehorchen, als gute Ehefrau ihrem Ehemann, als gute Schwiegertochter seinen Eltern und als gute Mutter ihrem Sohn. Warum sollen wir Frauen uns einem Gesetz unterordnen, das sich ganz offensichtlich gegen unsere eigenen Interessen richtet?« Auf Englisch fügte sie hinzu: »Nenn mir einen guten Grund.«
    Er streckte lachend die Hände nach vorne, als müsste er sich vor etwas schützen.
    Nicht weit von den beiden entfernt kniete Suzuki und hörte ihnen zu, wie sie das Gespräch in einem Mischmasch aus Englisch und Japanisch fortsetzten. Sie war nie eine Schönheit gewesen, und mit den Jahren hatte sie eine mütterliche, heitere Gelassenheit entwickelt, ihr Gesicht war faltenlos, die schmalen Augen funkelten. Sie verstand das meiste von dem, was gesagt wurde, und genoss die Wortgefechte aus sicherer Entfernung. Sie bot Henry das traditionelle Eheleben, mit dem sie sich beide wohlfühlten: Ihre Stimme war nicht oft zu hören, zumindest nicht, wenn andere Personen anwesend waren. Jetzt lächelte sie nachsichtig, als ihr Ehemann Cho-Cho vorwarf, sie werde immer westlicher.
    »Als Nächstes

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