Madame Butterflys Schatten
in die Bucht, und überall an den Kais im Osten und im Westen der Insel und an der Südspitze der Halbinsel lagen Marineschiffe vor Anker. Die See war ruhig, und auch die Schiffe schienen vor sich hin zu dösen wie rastende Möwen, wie Lois und Jack, tief versunken in den sorglosen Schlummer unschuldiger Jugend.
Jack Pinkerton hatte beschlossen, Nancy keine Einladung zu schicken, als er und Lois heirateten: Es hätte sie vielleicht an eine andere Hochzeit erinnert, an ihre eigene, an einen anderen Bräutigam, jung und strahlend in einer weißen Marineuniform. Er schickte ihr ein paar Zeilen mit einem Foto.
Vor ihrer Heirat mit Jack war Lois ein winziges Rädchen im Getriebe der aufblühenden Filmindustrie gewesen, sie arbeitete in Hollywood und wohnte im Valley. Damals war es ihr so vorgekommen, als wimmle es in Kalifornien von Deutschen, von denen einige nicht einmal Englisch konnten, was ihr bei Leuten, die Drehbücher verfassten, doch von einigem Nachteil erschien. Später erfuhr sie, dass es vor den Nazis geflohene Juden waren. Sie wurde einem von ihnen zugeteilt, der in der Studiohierarchie ziemlich weit unten rangierte. Der Personalabteilung zufolge war sie seine Sekretärin, sie selbst betrachtete sich jedoch als einiges mehr: Sie korrigierte sein Englisch, wenn sie Briefe für ihn tippte, und lernte, mit dem Geruch von Knoblauchwurst zu leben, der in regelrechten Schwaden aus seinem Aktenschrank strömte.
Mit alldem war nach ihrer Heirat Schluss, und manchmal vermisste sie die Skurrilitäten ihres Büros – die Männer, die mit Einkaufsnetzen voll Manuskripten und Lebensmitteln in der Hand kamen und gingen, das Schachbrett und die Stapel alter Bücher, Tee mit Zitrone, der aus hohen Gläsern getrunken wurde. Es war ganz anders als die typisch amerikanischen Büros mit den Angestellten, die sie als gojim bezeichneten: schneidige junge Männer in Ivy-League-Hemden, frisch von der Uni in Berkeley und Los Angeles. Ganz anders als ihr Ehemann.
Nach der Heirat mit Jack begann ihr Leben als Seemannsfrau, die Angst vor dem sich ausweitenden Krieg in Europa. Jacks Vater hatte einen Vetter namens Charlie, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und nicht aus Frankreich zurückgekommen war. Der Umzug nach Hawaii beruhigte sie: Der Marinestützpunkt mit den palmengesäumten Stränden erschien ihr als sicherer Zufluchtsort weitab vom Schuss. Hawaii war genau das Richtige für ein frischgebackenes kalifornisches Ehepaar.
Sie wurden aus dem Schlaf gerissen, als die erste Explosion den Hafen erschütterte, Fensterscheiben zum Klirren brachte und Ziegel von den Dächern fegte, die Traumsequenz zerfetzt von Flugzeugen, die aus einem bewölkten Himmel herunterstießen, begleitet von Motorenlärm und ohrenbetäubenden Explosionen. Dann eine verstörende Sequenz:
Flugzeuge stürzen sich auf die Schiffe wie Raubvögel. Schnitt! Bomben! Schnitt! Matrosen rennen zu den Flakgeschützen. Schnitt! Zivilisten flüchten in Panik. Schnitt! Ein Schiff versinkt in einem Feuerball. Noch eins. Und noch eins.
Durch das Fenster sah Jack die Flugzeuge in geschlossener Formation näherkommen, zwischen tief hängenden Wolken verschwinden und wieder auftauchen. Dann donnerten sie im Tiefflug über das Haus hinweg. Ein flüchtiger Blick auf das Symbol auf einem der Flugzeugrümpfe: eine aufgehende Sonne. Die Japaner griffen Pearl Harbor an.
Über das Heulen der Schiffssirenen hinweg rief er Lois zu: »Mach, dass du hier wegkommst, sofort! Raus aus dem Hafen!«
Gleich darauf war er unterwegs nach Ford Island, knöpfte im Laufen seine Uniform zu, und sie saß im Auto und fuhr in Richtung der Hügel.
Die Straße war verstopft von Autos voller Frauen und Kinder, die aus der Küstenregion flohen, das Dröhnen der Flugzeugmotoren, das Krachen der Explosionen und das Feuer der Maschinengewehre im Rücken. Einige der Frauen drückten unablässig auf die Hupe, als könnten sie damit die Autos vor ihnen in Bewegung versetzen. Hinter Lois sprang eine Frau mit einem Kind auf dem Arm aus dem Wagen, ließ die Tür einfach offen stehen und begann zu laufen. Als sie an Lois vorbeikam, rief sie ihr über die Schulter zu: »Maschinengewehre! Runter von der Straße!«
Panik erfasste Lois und schien sie von innen heraus zu versengen, sie kämpfte mit dem Türgriff, stieß die Tür auf und rannte von der Straße weg, während die Flugzeuge immer näher kamen und sie mit Maschinengewehrsalven verfolgten.
Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Beine, und sie
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