Madame Butterflys Schatten
zurückkehrte.
Jetzt wusste sie, dass das niemals geschehen würde.
Sie zwang sich dazu, in den Schmerz einzutauchen, sich Pinkerton so vorzustellen, wie er damals gewesen war: schön, blond, kraftvoll. Wenn er badete, wirkte sein Körper in dem Bottich wie ein blasses Geschöpf aus den Tiefen des Meeres, er tauchte unter, verschwand, dann tauchte er wieder auf und schüttelte das Wasser aus seinen vor Nässe dunklen Locken. Seine Liebkosungen – mit der Zeit lernte er, sie sanfter zu entkleiden, und sie lernte, darauf zu reagieren. Kurze zärtliche Momente – »Sieh mal, Madame Butterfly, ich habe dir eine Überraschung mitgebracht« –, Castella-Kuchen vom Markt, ein Stück feiner Seide, das Cloisonné-Armband, das sie nicht mehr getragen hatte, seit er fortgegangen war … in diesen Momenten hatte sie sich erlaubt, zu träumen, zu glauben, er käme eines Tages zurück.
Jetzt hatte er sie endgültig verlassen, war untergegangen, erstickt, seine Lunge voll grünem Schlamm, und auch sie erstickte, Tränen schnürten ihr die Kehle zu, ihre Lunge brannte, und selbst wenn sie wusste, dass eines Tages das Leben in ihren Körper zurückkehren würde, dass sie wieder ganz normal herumlaufen und sprechen würde, hatte sie das Gefühl zu vergehen. Ein Teil von ihr war gestorben.
Einige Zeit später, als sie Pinkertons Namen wieder über die Lippen brachte, sprach sie mit Henry über ihn und stellte die Frage, wer von ihnen beiden behaupten könne, ihn gekannt zu haben: »Wie war er wirklich?«
Henry wusste nicht, was er darauf antworten sollte: Konnte er ihr sagen, Pinkerton sei ein selbstsüchtiger Mistkerl ohne eine Spur von Feingefühl gewesen? Andererseits, was wusste er eigentlich über den Mann, der in jener Nacht gestorben war, den man aus dem Anacostia gefischt und neben einen Veteranen, abgeknallt von einem schießwütigen Soldaten, ans Ufer gelegt hatte?
Mary hatte geschrieben: »Nancy ist am Boden zerstört. Es heißt, Präsident Hoover habe nicht gewollt, dass die Sache derart aus dem Ruder läuft, aber wird man je die Wahrheit erfahren? Ich muss dir gestehen, Henry«, so seine Schwester weiter, »dass ich von Anfang an nicht besonders glücklich über die Heirat von Nancy und Ben war. Was in Nagasaki passiert ist, das Kind, ich hätte mir für meine Tochter etwas Besseres gewünscht. Und nun zeigt sich, dass ich mit meinen Bedenken recht hatte. Ben scheint den Männern auf diesem traurigen Marsch eine Hilfe gewesen zu sein, aber er hätte nicht daran teilnehmen müssen, er hätte an seine Familie denken sollen. Auf seine Art war er gewiss ein guter Vater, aber jetzt steht Nancy allein mit dem Kind da. Wir müssen alle für ihn beten. Einen reuigen Sünder nimmt Gott gnädig auf.«
Also was sollte er Cho-Cho sagen, die auf seine Antwort wartete?
»Wie er wirklich war? Nun ja, wer von uns kennt einen anderen Menschen schon genau? Aber eins weiß ich sicher – er war ein guter Vater.«
Er warf ihr einen raschen Blick zu, aber ihre Miene war völlig ausdruckslos. Er hatte keine Ahnung, was ihr durch den Kopf ging.
TEIL VIER
Kapitel 28
»ANTHROPOLOGIE? WAS WILLST du denn mit Anthropologie anfangen?«, fragte Louis. »Verschafft dir das eine Stelle bei irgendeiner Firma hier?«
Joey zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich nicht. Aber ich will ja auch gar nicht für eine Firma arbeiten.«
»Ihr jungen Leute heutzutage haltet das College für einen Spielplatz. Die Stellen wachsen aber nicht auf den Bäumen, Joey.«
»Na ja, wenn es sich um einen Maulbeerbaum handelt und man in der Seidenbranche ist, dann schon.«
»Werd bloß nicht frech, Junge!«
»Okay. Du willst wissen, warum ich mich für Anthropologie entschieden habe. Also, Margaret Mead hat gesagt …«
»Und verschon mich mit dem Gewäsch von diesen Schlaumeiern. Reicht schon, dass sie sich damit ihre Brötchen und ihre Pulitzer-Preise verdienen.«
Joey fand es schwierig, Louis zu erklären, warum das Studium von Unterschieden und Ähnlichkeiten, Gesellschaftssystemen, fremden Kulturen und fernen Ländern einen Reiz hatte. Und das war ja auch noch längst nicht alles.
»Gramps, die Welt ist voll mit Leuten, die sich gegenseitig umbringen … Vielleicht fiele ihnen das schwerer, wenn wir nicht die ganze Zeit in den Kategorien von ›wir hier‹ und ›die dort‹ denken würden. Wenn es ein anderes Wort dafür gäbe, ein Wort für alles. Für das, was wir gemeinsam haben.«
Er hielt inne. In seinem Kopf waren das komplizierte Überlegungen
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