Madame Butterflys Schatten
Küchenwand gehängt. Wie den meisten Leuten war ihr damals nicht klar gewesen, dass Roosevelt, der gern Anleihen machte, sich hier bei Thoreau bedient hatte. Jetzt erfuhr sie, dass Montaigne es als Erster ausgesprochen hatte: Wovor ich mich am meisten fürchte, ist die Furcht .
Nancy wollte ihrer Mutter das Frühstück nach oben bringen, als es klopfte. Das Tablett vorsichtig auf einem Arm balancierend, öffnete sie die Haustür. Ein Mann in einem dunklen Anzug und mit einem Stapel Papieren in der Hand zog seinen Hut.
»Ma’am? Ich suche nach jemandem namens Pinkerton.«
»Ich bin Mrs. Pinkerton.«
»Ma’am, wir haben Kenntnis davon, dass in Ihrem Haushalt ein Angehöriger eines fremden Staates lebt.«
Nancy starrte den Mann verblüfft an. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Ein Angehöriger eines fremden Staates? Meinte er einen ausländischen Besucher? Sie hatte keine Besucher aus dem Ausland. Sie schüttelte den Kopf.
»Sie müssen sich in der Adresse geirrt haben.« Das Tablett in beiden Händen, machte sie Anstalten, die Tür mit dem Fuß zuzustoßen.
»Ma’am, wir haben entsprechende Unterlagen …«
»Na, dann wird es sich wohl um ein Versehen handeln. Das hier ist das Haus meiner Eltern. Hier wohnen nur die beiden und ich mit meinem Sohn.«
»Ihr Sohn.« Sein Stift schwebte über dem Papier. »Ist das ein gewisser Joseph Theodore Pinkerton?«
»Ja.«
»Ma’am, unseren Unterlagen zufolge wurde Joseph Pinkerton in der Stadt Nagasaki in Japan geboren, die Mutter ist Japanerin. Das macht ihn zum Angehörigen eines fremden Staates, einem Ausländer …«
Sie unterbrach ihn. »Wären Sie so nett, einen Moment zu warten? Ich muss meiner Mutter das Frühstück bringen.«
Sie ließ die Tür offen stehen und ging vorsichtig die schmale Treppe hinauf, um mit dem Tablett nicht gegen die Wand zu stoßen. Zwei Minuten später war sie wieder unten in der Diele und trat dem dunkel gekleideten Mann mit dem Frettchengesicht, den stechenden Augen und den klauenartigen Händen gegenüber – wobei ihr klar war, dass sie aus einem unschuldigen Boten einen Dämon machte.
»Wo waren wir stehengeblieben?«
Er sprach mit nüchterner, ausdrucksloser Stimme, seine Worte gingen in dem Dröhnen in Nancys Kopf unter, das sie überfiel wie ein plötzlicher Kopfschmerz und immer lauter wurde.
Sie unterbrach ihn. »Entschuldigung, das habe ich nicht richtig verstanden. Könnten Sie es bitte noch einmal sagen?«
Er schien alles Wort für Wort zu wiederholen, wie eine zerkratzte Schellackplatte, auf der die Nadel hängen bleibt, und dieses Mal begriff sie den Sinn seiner Worte, die geradezu unfassbare Tatsache, dass ihr Sohn sich bei einer zivilen Kontrollstelle hier in ihrem Viertel registrieren lassen musste, weil er eine japanische Mutter hatte …
»Er hätte sich wie alle anderen schon längst melden müssen. Die Bekanntmachung des Verteidigungskommandos ist in der ganzen Stadt verteilt worden.«
»Bekanntmachung?«, sagte Nancy. »Ich weiß nichts von einer Bekanntmachung. Und warum muss er sich registrieren lassen?«
»Damit man ihm eine Nummer zuweisen kann, Ma’am.«
Wieder verstand sie nicht.
»Was für eine Nummer?«
»Für den Transport. Er wird bei der Kontrollstelle registriert, erhält eine Nummer und einen Anhänger …«
»Einen Anhänger?«
»Einen Versandschein …«
»Er ist doch kein Paket! Was soll das heißen, er braucht einen Versandschein? Wo soll er denn hin?«
»Ma’am, er wird mit dem Bus oder dem Zug in eins der Internierungslager gebracht …« Er dachte kurz nach. »In eine der Ausländersiedlungen, sollte ich wohl besser sagen.«
Nancy überlief es eiskalt, ihr Verstand ließ sie im Stich, sie war nicht in der Lage, auch nur halbwegs vernünftig auf diese Situation zu reagieren.
»Joey kann nicht weg«, stotterte sie, »er macht demnächst eine Studienfahrt mit dem College.«
Der Mann überreichte ihr ein windiges Faltblatt. »Nein, das hat sich erledigt. Hier steht, wo er sich zu melden hat. Wie die übrigen Japsen … Genau genommen hat er schon jetzt gegen das Gesetz verstoßen«, fügte er hinzu, »weil er sich nicht ordnungsgemäß hat registrieren lassen.«
»Wenn Sie nicht von Haustür zu Haustür gehen«, fragte Nancy verwirrt, »woher wussten Sie dann, dass hier ein – Ausländer wohnt?«
»Ein Nachbar hat uns einen Hinweis gegeben.«
Er blickte auf und sah ihren Gesichtsausdruck. »Tut mir leid, Ma’am.«
Sie schloss die Tür und kehrte langsam zurück
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