Madame Butterflys Schatten
davon?«
»Meinst du die Frage ernst? Sie waren hier auf dem Campus und haben Leute herausgepickt. Gestern haben sie jemanden aus dem Wohnheim geholt.«
»Komm nach Hause, Joey. Jetzt gleich. Wir gehen miteinander zu dieser Kontrollstelle und klären das.«
Er kam am Abend und ging sofort in Marys Zimmer, wo er sich zu seiner Großmutter hinunterbeugte und sie vorsichtig umarmte, ihre Zerbrechlichkeit spürte, die filigranen Knochen unter dem Bettjäckchen. Er atmete den vertrauten Geruch nach Lavendel und Puder ein.
»Joey, mein Schatz …«
»Wie geht’s meiner liebsten Gran?«
Meiner einzigen Gran, fügte er im Stillen hinzu. Wie froh mussten die Pinkertons sein, dass sie das fremde Kind von Anfang an abgelehnt hatten. So bestand nicht die geringste Gefahr, dass jetzt etwas von dieser Sache auf sie abfärben würde.
Nachdem Louis zu Bett gegangen war, saßen Nancy und Joey zusammen und sprachen leise miteinander. Es gab Möglichkeiten, die Verordnung zu umgehen: Wenn man einen Bürgen fand, durfte man das Sperrgebiet verlassen, in Richtung Osten. Sie kannte jemanden, der jemanden kannte …
Er nahm ihre Hand. »Hast du die Zeitungen gelesen? Die Verräter der fünften Kolonne. Die Gelbe Gefahr. Walter Lippmann von der Herald Tribune in New York schreibt, eine Million Japsen würden nur darauf warten, die Herrschaft über die gesamte Pazifikküste zu übernehmen.«
»Wo soll sich diese millionenstarke japanische Armee denn befinden?«
»Frag mich was Leichteres. Aber offenbar könnte ich dazugehören.«
»Wie dem auch sei«, sagte sie unwillig. » Lippmann ! Ein Kerl, der uns vor unmittelbar bevorstehenden Sabotageakten warnt, weil es nicht den geringsten Hinweis darauf gibt. Ich bitte dich!«
»Zwei der Dekane am College haben letzte Woche herumtelefoniert«, sagte Joey sanft, »und versucht, ihre Studenten außerhalb des Sperrgebiets unterzubringen. Die Reaktionen waren ziemlich interessant: Es sei nichts Persönliches, lautete die Botschaft, aber wenn diese Leute zu gefährlich für die Westküste sind, dann wollen wir sie hier auch nicht haben.« Er zuckte die Achseln. »Und denen willst du erklären, dass es bei deinem Sohn etwas anderes ist. Da wäre bloß das Problem, dass er nicht einmal dein Sohn ist. Seine Mutter ist eine Japse.«
Nancy hatte zu weinen begonnen, gequält von einer Schuld, die er niemals verstehen würde. Wie hatte sie nur so blind sein können? Sie hätte ihre Stelle kündigen und in den Osten ziehen können, um der Hysterie an der Westküste zu entfliehen. Jetzt war es zu spät, die Mutter war bettlägerig, der Vater gebrechlich. Sie hing hier fest.
»Ich begleite dich zu diesem Gespräch«, wiederholte sie. »Ich werde hart bleiben. Sie werden mir zuhören.«
Er grinste. »Du bist ungefähr so hart wie eine Schüssel Pudding. Ich bin ein großer Junge. Ich geh’ allein. Sobald sie mich sehen, werden sie sowieso denken, dass jemand ein Kreuz in die falsche Spalte gemacht hat.«
Sie rieb sich mit dem Handrücken über die Wangen. »Stimmt. Wer hat schon jemals von einem blonden, blauäugigen feindlichen Ausländer gehört?«
»Abgesehen von den Deutschen natürlich.«
Wenigstens konnte er sie noch zu einem Lächeln bringen. Obwohl man keine Deutschen zusammentrieb.
Auf einmal fand er sich in einer veränderten Welt wieder, in der ihm der Boden unter den Füßen schwankte, und deshalb machte er sich am nächsten Tag auf den Weg in die Altstadt, wo er vielleicht herausfinden würde, wie andere mit dieser Situation umgingen.
Die Gegend hatte sich in eine Geisterstadt verwandelt, Geschäfte waren verschlossen und verriegelt, Rollläden heruntergezogen, an einigen hing ein Schild mit der Aufschrift »Räumungsverkauf«.
Die Straßen waren wie leer gefegt, nur ein paar ältere Leute eilten mit gesenkten Köpfen an ihm vorbei, darauf bedacht, ihm aus dem Weg zu gehen. Wie zuvor war er hier ein Fremder, aber ein Wort auf einem Blatt Papier hatte ihn dieser Gemeinschaft von Außenseitern zugeschlagen.
In finsterer Laune kehrte er nach Hause zurück, längst vergessen geglaubte Bilder drangen auf ihn ein, in seinem Kopf hallten ferne Stimmen wider, Worte, deren Bedeutung er nicht mehr verstand. Aus dem Spiegel blickte ihm das Gesicht eines jungen Amerikaners entgegen, aber es gehörte einem Fremden.
Nancy hatte eine Schulfreundin, die ihre Jugendliebe geheiratet hatte und nach Wyoming gezogen war. Die beiden Frauen waren in loser Verbindung geblieben – Karten zu den
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