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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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Geburtstagen und an Weihnachten, hin und wieder ein Brief. Als Nachsatz hatte auf Hilarys Karten oft gestanden: »Komm uns mit deinem Jungen doch mal besuchen.«
    Wyoming lag außerhalb des Sperrgebiets. Nancy griff zum Telefon.
    Hilarys Stimme klang freudig überrascht, und sie stellte die üblichen Fragen: Wie ging es Nancy? Und ihren Eltern? Und Joey?
    Hier verließ das Gespräch die gewohnten Bahnen, als Nancy ihrer alten Freundin zum ersten Mal die Wahrheit über ihren Sohn gestand. Schließlich sagte sie: »Es gibt einen Ausweg. Wenn sich außerhalb der Militärzone jemand findet, der ihn aufnimmt, dann darf er weg von hier.« Sie holte tief Luft. »Hilary, nimmst du ihn auf?«
    Hinterher fragte sich Nancy, wem elender zumute gewesen war: ihr, als ihre letzte Hoffnung zunichtegemacht wurde, oder ihrer alten Freundin, die den Ausweg versperrte, indem sie ihr erklärte, wenn es nach ihr ginge, selbstverständlich … aber die Ressentiments bei ihnen seien so stark, dass der Gouverneur (mit Blick auf seine Wiederwahl) verkündet habe, jeder Japse, der in seinem Bezirk aufgegriffen werde, finde sich am nächsten Tag an einem Baum aufgeknüpft wieder.

Kapitel 33
    LEDIGLICH IHRE FAHRIGEN Bewegungen ließen erahnen, wie verzweifelt Nancy war. Die meiste Zeit gelang es ihr, die Fassade aufrechtzuerhalten und sich gewohnt munter und tatkräftig zu zeigen. Von Zeit zu Zeit ließ sie jedoch ihren Schutzschild fallen und flehte Joey an, er solle noch einmal mit ihr zu der Kontrollstelle gehen. Selbst jetzt, nachdem er registriert worden war, klammerte sie sich an den Gedanken, sie müsse nur an die richtigen Leute herankommen, dann würden sie schon einsehen, dass sein Name nichts auf der Liste zu suchen hatte, und ihn davon streichen.
    Wie eine Katze rieb er beruhigend seine Schulter an ihrer, wie er es als Kind immer gemacht hatte.
    »Danke, Nancy, aber ich denke, ich bleibe bei meinen Leuten.« Bei den letzten beiden Worten troff seine Stimme vor Ironie.
    Es versetzte ihr einen Stich, dass er sie Nancy nannte. Nicht mehr Mom. Aber es war auch verständlich, da nun seine japanische Mutter über seine Identität bestimmte.
    Mit raschen, sicheren Handgriffen packte sie seine Tasche. Gemeinsam lasen sie die Anweisungen: Er durfte nur das mitnehmen, was er »in Händen tragen« konnte, wie es auf dem Vordruck hieß.
    Er fragte sich, wie man auch sonst etwas tragen sollte. Vielleicht auf dem Kopf wie ein indischer Lastenträger oder auf dem Rücken wie ein Bergsteiger? (Aber diese Anweisungen richteten sich natürlich an nicht ganz so zivilisierte Leute. Wer wusste schon, wie diese Ausländer ihre Sachen trugen?) Und was nahm man eigentlich mit, wenn man nicht wusste, wie lange man weg sein würde? Zumindest in dieser Hinsicht waren die Anweisungen klar.
    Bei der Abreise zur Sammelstelle haben die Evakuierten folgende Dinge mitzuführen:
    a) Bettzeug und Bettwäsche (keine Matratzen) für jedes Familienmitglied
    b) Toilettenartikel für jedes Familienmitglied
    c) Kleidung zum Wechseln für jedes Familienmitglied
    d) ausreichend Messer, Gabeln, Löffel, Teller, Schüsseln und Tassen für jedes Familienmitglied
    e) andere unabdingbare persönliche Gegenstände für jedes Familienmitglied
    KEINE HAUSTIERE.
    Zwei Worte für einen tausendfachen herzzerreißenden Abschied: Katzen, Hunde, Kanarienvögel, weiße Kaninchen … die vor dem Transport weggegeben oder eingeschläfert werden mussten.
    »Gut«, sagte Nancy. »Kleidung, Schuhe zum Wechseln, Seife, Zahnbürste, Zahnpasta.« Sie packte Besteck und Teller aus Emaille ein – leicht und unzerbrechlich.
    »Bücher«, sagte er. »Ich denke mal, Bücher sind erlaubt – es sei denn, sie vermuten verschlüsselte Botschaften darin und konfiszieren sie.« Ein paar Wochen später sah er zu, wie ein Beamter der Lagerverwaltung argwöhnisch eines seiner Lehrbücher unter die Lupe nahm und von einigen rätselhaften Ziffern in Verwirrung gestürzt wurde: »Was sind das da für kleine Zahlen neben den Wörtern?«
    »Das sind Fußnotenziffern«, erklärte er.
    Er hatte beschlossen, ein paar Lehrbücher für sein Studium mitzunehmen. Nancy fand die Idee gut: »Dann hinkst du nicht hinterher, wenn du aufs College zurückkehrst.« Er bezweifelte, dass er vor Semesterende dorthin zurückkehren würde, packte die Bücher aber trotzdem ein. Außerdem Stifte, Füller, Tinte, Notizhefte. Ein Foto von Nancy und seinem Vater, inzwischen vergilbt, eine Ecke geknickt. Was sonst noch? Nichts

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