Madame Butterflys Schatten
Ohren.
Allmählich, als kämen sie aus weiter Ferne, begannen unverständliche Wörter die Luft mit einem leisen Rauschen zu füllen. Er spürte einen Stein in seinem Schuh, ein Jucken zwischen den Schulterblättern, Durst. Er nahm seine Umgebung wahr.
Vor ihnen – ein dunkler Schatten in der hellen Sonne – ragte ein großes, hässliches, offenbar verlassenes Gebäude auf.
Neben ihm sagte die Stimme eines jungen Mannes: »Ich schätze mal, diese Bruchbude da ist es. Unser neues Zuhause.«
Gebrüllte, einander widersprechende Anweisungen, Schreie, Pfiffe … ein Wall aus Lärm umschloss die verstörte Menge. Einige junge Männer in Joeys Alter übernahmen die Aufgabe, sich um die verstört hin und her laufende Herde zu kümmern. Als führe er die Aufsicht bei einem Schulausflug, brachte Joey verloren gegangene Kinder zu ihren Eltern zurück, trug einer schwangeren Frau die Tasche, trieb die in der Reihe vor ihm Stehenden zum Weitergehen an. Die meisten von ihnen waren sorgsam gekleidet, als nähmen sie an einem Familientreffen teil, die Frauen trugen Hüte und Handschuhe, die Kinder sahen ungewöhnlich ordentlich aus. Auf ihren Gesichtern lag ein ängstlicher, verwirrter Ausdruck. Alte Frauen weinten leise vor sich hin und versuchten, möglichst unsichtbar zu bleiben.
In der riesigen Halle empfing sie ein Labyrinth aus leeren Räumen wie ein noch nicht in Betrieb genommenes Theater, das auf die Bühnenarbeiter und Schauspieler wartete. Von bewaffneten Soldaten unsanft vorwärts getrieben, schoben sich die Evakuierten durch die Gänge: alte Männer und Frauen, junge Mütter, verschlossene Jugendliche, Kinder – sie alle sahen sich furchtsam um, Teil eines vorgegebenen Prozesses, warteten. In der Luft hing der stechende Geruch von Dung.
Windige Bretterwände unterteilten das Gebäude in viel zu kleine provisorische »Wohnungen«. Als Joey vor einer Tür stehen blieb, drängte sich ein dünner, dunkelhaariger junger Mann mit einer Narbe auf der Wange an ihm vorbei.
»Mein Gott. Die haben gesagt, wir sollen keine Matratzen mitbringen, aber hast du dir diese Lumpen angesehen?«
Auf jedem der eisernen Bettgestelle lag ein mit pieksendem Heu gefüllter Matratzenüberzug.
Wortlos betraten die beiden den Verschlag und warfen ihre Taschen auf zwei der Betten.
»Joey Pinkerton.«
»Sat ō Ichir ō . Wo wir Japsen ja hier unter uns sind.«
»Und wie soll ich dich nennen – Sat ō ?«
»Das ist mein Familienname. Nenn mich Ichir ō .« Er musterte Joey mit schief gelegtem Kopf. »Es gibt da diesen alten japanischen Witz. Die Pointe lautet ungefähr so: ›Komisch, du siehst gar nicht japanisch aus.‹«
»Meine Mutter«, sagte Joey. »Ich bin in Nagasaki geboren.«
»Ach du Scheiße, dann bist du ja noch schlimmer dran als ich. Ich bin wenigstens in Benton County geboren. Aber du wurdest auch noch im Reich des Satans gezeugt.«
»Meinst du, sie erschießen mich?«
»Nur wenn du wegläufst«, sagte Ichir ō . »Wir sind hier in Amerika. Das Land der Freien, schon vergessen?«
Die Wunde auf seiner Wange war erst gerade zugeheilt, die gezackte Linie noch mit dunklem Schorf überzogen. Er fuhr mit der Fingerspitze darüber.
»Falls du dich wunderst: der Abschiedsgruß eines Nachbarn. Damit ich was zur Erinnerung habe.«
»Was ist mit deinen Eltern?«
»Die sind auf Besuch nach Hause gefahren, die alljährliche Pilgerreise zu den Vorfahren. Sie wollten an sh ō gatsu zurückkommen.« Er bemerkte Joeys Blick. »Neujahr. Sie schleppen jedes Mal einen bis zum Rand mit traditionellen Geschenken gefüllten Korb an, und dann verbringen wir die Feiertage damit, uns mit osechi-ryori und all dem anderen Zeug vollzustopfen. Warum auch nicht? Wenn es die Großeltern glücklich macht.«
Er hatte beim Sprechen geistesabwesend in seinen Taschen gekramt und förderte jetzt zwei in Zellophan gewickelte Bonbons zutage. Einen bot er Joey an und wickelte dann langsam seinen aus, während er einem unausgesprochenen Gedanken nachhing.
»Na ja, dieses Jahr wurden vermutlich nicht besonders viele Postkarten verschickt, nicht die richtige Zeit für nengaj ō .«
Joey lagen alle möglichen Fragen auf der Zunge: In welcher Stadt hielten sich Ichir ō s Eltern auf? Wie sehr war die Familie der Tradition verbunden? Was war nengaj ō ? Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie wenig Ahnung er hatte: Die Reihenfolge von Namen, Feiertage, Essen, Gebräuche, all das war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Es musste einmal eine Zeit gegeben
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