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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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begriff, dass es der Geruch von Angstschweiß war.
    Die Registrierung hatte ihm den ersten Schock versetzt, die Erkenntnis, dass der Mensch hier nichts zählte, es ging allein um den dokumentarischen Nachweis. Es gab keine Diskussionen, keine Abstufungen. Ein Blatt Papier, eine Unterschrift, ein Stempel. Schafe und Böcke. Selig sind, die reinen Blutes sind, denn sie werden das Erdreich besitzen. Seine japanische Mutter, sein Geburtsort, das waren die Fakten, die ihn einer bestimmten Kategorie zuordneten. Ordnungsgemäß identifiziert, registriert und vor allem dokumentiert, wurde Joseph Theodore Pinkerton auf einen Weg ohne Abzweigung geschickt. Er konnte nichts weiter tun, als seine Tasche zu nehmen und sich woanders zu melden, eine Nummer, eine Ziffer, mit einem Anhänger versehen und in einen Raum verfrachtet, wo er auf seinen Abtransport wartete. Um ihn herum warteten reihenweise andere Nummern, ebenfalls registriert und mit Anhängern versehen – nach und nach füllten Männer, Frauen, Kinder, die nicht wussten, was sie erwartete, eine riesige Halle, die irgendwann einmal einem anderen Zweck gedient hatte und die jetzt die zivile Kontrollstelle Portland war.
    Gleich nach seiner Ankunft hatte er die erste Begegnung mit der neuen Ordnung, ein Moment, der irgendwie all das enthielt, was noch folgen sollte.
    Auf dem Weg in den Empfangsbereich fing ein Wachmann neben der Tür seinen Blick auf und winkte ihn freundlich zu sich.
    »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
    Joey hielt seine Tasche mit Anhänger und Nummer in die Höhe. »Na ja, sagen Sie es mir …«
    Er sah, wie sich auf dem Gesicht des Mannes nacheinander die widersprüchlichsten Gefühle spiegelten – von Wohlwollen zu Erstaunen und zu etwas, das Wut ähnelte.
    »Okay, Freundchen. Stell dich in die Reihe zu den anderen.«
    Er stellte sich in die Reihe zu den anderen, die er allesamt um Haupteslänge überragte, eins achtzig groß und mit blauen Augen. Kein Wunder, dass ihn der Wachmann mit einem Menschen verwechselt hatte.
    Das Auffanglager Portland – früher eine Halle, in der Viehausstellungen stattgefunden hatten – war eilig für seinen neuen Verwendungszweck als Sammelstelle, als Durchgangsstation hergerichtet worden, während irgendwo anders das eigentliche Internierungslager aufgebaut wurde.
    Nachdem die »Evakuierten«, wie sie jetzt hießen, aus den Lastwagen und Bussen geklettert waren, irrten sie herum, ohne zu wissen, wohin sie als Nächstes gehen sollten. Ein älteres Paar kam auf Joey zu, dann trat es unter Verbeugungen schnell zur Seite und murmelte eine Entschuldigung. Am liebsten hätte er die beiden gepackt, geschüttelt und angeblafft, sie brauchten sich nicht bei ihm zu entschuldigen oder ihm aus dem Weg zu gehen, schließlich war auch er nur eine Nummer.
    Während Joey ein weiteres Mal in einer Schlange stand und wartete, durchblätterte er eine weggeworfene Zeitung. Bei der Seite mit den Nachrufen hielt er inne und betrachtete die Collage aus Gesichtern: vor Kurzem verstorbene berühmte Persönlichkeiten. Leben, die durch besondere Leistungen oder Skandale gekennzeichnet waren, auf eine Zeitungsspalte reduziert. Sein Blick glitt über die Namen: Bronislaw Malinowski, geboren 1884 in Krakau, später wohnhaft in England … bedeutender polnischer Anthropologe und Begründer des britischen Funktionalismus.
    Er fuhr mit der Hand über seine Tasche, ertastete den Stapel Bücher, darunter eine Ausgabe von Malinowskis Argonauten des westlichen Pazifiks , die eselsohrigen Seiten voller Kaffeeflecken. All die vielen Reisen, nach Papua-Neuguinea, auf die TrobriandInseln, die Salomonen – und dann segnete dieser große Mann in Connecticut das Zeitliche, während einer Gastprofessur in Yale. Wir sind alle miteinander verbunden, hatte Malinowski gesagt. Joey Pinkerton, ein Angehöriger eines fremden Staates, war zugleich Amerikaner.
    Ein Wachmann schlug ihm mit seinem Knüppel hart auf den Arm: »Aufschließen, Freundchen.«
    Also: kein Amerikaner, nicht mehr, seine alte Identität zusammen mit Pearl Harbor in Flammen aufgegangen, von den Wellen verschlungen, die über den sinkenden Schiffen zusammengeschlagen waren und die letzten Spuren weggespült hatten. Auf wundersame Weise verwandelt, war er als Japaner wiedergeboren worden. Als Feind.
    Einen Moment stand er da, überwältigt von dem Gefühl des Ausgestoßenseins, losgelöst von Himmel und Erde und der Luft um ihn herum, wie ein aus dem Wasser schnellender Fisch. Stille dröhnte in seinen

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