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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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Internierungsgeschichte wurde ihrer Ansicht nach falsch angegangen: Warum hatte die Kirche nichts unternommen? Die Quäker hatten dagegen protestiert, aber warum hatten die Methodisten keine Einwände erhoben? Erbost richtete sie sich in ihren Kissen auf, fasste Joey bei den Armen und gab ihm einen festen Kuss.
    »Wir beten für dich.« Dann fügte sie hastig hinzu: »Auch wenn es natürlich keinen Grund zur Sorge gibt.«
    Er strich ihr über die weiche, durchscheinend blasse Wange und rannte die Treppe hinunter, Tränen schossen ihm in die Augen. Wenn Nancy bei der Arbeit war, hatte Mary ihn von der Schule abgeholt. Sie hatte ihn in den Arm genommen, bevor er zu alt für solche Zärtlichkeiten geworden war, und er hatte ihre glatte Haut an seinem Gesicht gespürt. Auf dem Heimweg war sie kräftig ausgeschritten, um mit seinen Hüpfern und Sprüngen Schritt zu halten. Jetzt war die Welt da draußen auf den Ausschnitt vor ihrem Schlafzimmerfenster geschrumpft. Nur ihr Geist war noch rege, fand keine Ruhe.
    »Hör mal, Junge«, setzte Louis an, doch dann schienen ihm die Worte zu fehlen. Er räusperte sich, drückte Joeys Schulter, umarmte ihn, versetzte ihm einen Knuff, Gesten anstelle von Worten, die ihn im Stich ließen.
    Nancy strich seine Jacke glatt und schlang ihm einen Schal um den Hals.
    »Ich werde einen Hitzschlag kriegen«, protestierte Joey.
    »Es könnte kühler werden.«
    Sie drückte ihn fest an sich und vergrub das Gesicht in seiner Jacke, ihre Augen waren trocken.
    »Ich werde dir jeden Tag schreiben. Schreib du uns, so oft du kannst.« Sie schüttelte den Kopf. »Was rede ich denn da? Du wirst schon wieder zu Hause sein, bevor die Post ausgetragen wird. Sobald sie es begreifen.«
    Sobald sie was begreifen? Der Satz blieb unvollendet. Sobald sie begreifen, dass er kein »echter« Japaner ist?
    Als er die Straße hinunterging, spürte er ihren Blick; sie stand auf der Veranda und sah ihm nach, die Arme um sich geschlungen, um sich Halt zu geben. An der Ecke drehte er sich noch einmal um und winkte, und er sah, wie sie ins Haus zurückging und rasch die Tür hinter sich schloss.
    Er nahm Louis’ Reisetasche wieder auf, wechselte den Griff von der linken in die rechte Hand. Es war eine solide Tasche, praktisch, aber schon in leerem Zustand ziemlich schwer. Joey hätte eine leichtere Tasche nehmen können, aber damit hätte er Louis enttäuscht, und der heutige Tag war schon schlimm genug. Er wollte nicht noch das Messer in der Wunde umdrehen.
    Als er seine Papiere das erste Mal vorgelegt hatte, hatte der Beamte hinter dem Schreibtisch sie mit den Angaben auf einer Liste vor ihm verglichen.
    »Joseph T. Pinkerton, richtig?« Ein routinemäßiger Blick auf ihn, auf die Papiere, wieder auf ihn. Verwunderung.
    »Na gut … Dann wollen wir mal sehen …«
    In wie vielen Warteschlangen hatte er seither gestanden? Wie viele unlesbare Stempel waren auf wie viele Formulare gedrückt worden, wie viele Unterlagen waren geprüft worden, wie viele einander widersprechende Anweisungen waren darauf gefolgt … wie viel Verwirrung?
    Es gab ja auch allen Grund dafür: der Bilderbuchamerikaner Joey Pinkerton, geboren in Nagasaki, Sohn eines Helden aus Oregon, Schwimmer und Medaillengewinner, aber mit einer japanischen Mutter – wie hieß sie doch gleich noch mal, diese Mutter? Was für ein Name war das denn?
    Joey gewöhnte sich an das Unbehagen, das Misstrauen und die Feindseligkeit, die die Diskrepanz zwischen seiner Herkunft und seinem Aussehen nach sich zog.
    Ihm war klar, dass er aus der Menge herausstach und auf die anderen so verstörend wirkte wie ein Wolf in einer Schafherde. Und das waren sie, eine folgsame Herde, sie waren schmächtig, er war kräftig, sie waren dunkelhaarig, er war blond. Ihre leisen Gespräche hüllten ihn in eine Sprache ein, die er nicht verstand. Sie blickten zu ihm auf, ängstlich, verwirrt. Er wiederum musterte die erschöpfte, verschreckte, verhältnismäßig kleine Schar mit nüchternem, abschätzendem Blick. Inzwischen kannte er die verschiedenen Kategorien: die Issei, die vor langer Zeit aus Japan gekommen waren und nie die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten hatten, und die Nisei, die zweite Generation, als Amerikaner geboren und aufgewachsen. Staatsbürger. Wie unzuverlässig dieser Begriff auf einmal schien. Und wie passte er in diese Kategorie?
    In diesen kahlen Räumen herrschte ein merkwürdiger Geruch, stechend, irgendwie chemisch. Auch ihn lernte Joey einzuordnen: Er

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