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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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haben, als er schon sprechen konnte und noch nicht nach Amerika gebracht worden war, in der ihm all diese Dinge vertraut gewesen waren, in der er die Gerichte kannte, die man an Neujahr aß, die traditionellen Spiele spielte. Jetzt stand er da wie ein törichter Tourist, der sich in eine fremde, exotische Welt verirrt hatte.
    Er öffnete seine Reisetasche und sah sich nach einem Regal um, es gab jedoch nichts außer den blanken Wänden. Das Auffanglager Portland war nur eine Zwischenstation, bis das richtige Lager fertig war. Aber was bedeutete Zwischenstation? Eine Woche? Einen Monat?
    Vierundzwanzig Stunden lang waren sie wie gelähmt. Dann trat eine Veränderung ein, als hätte sich ein kollektiver Mechanismus in Gang gesetzt. Die Männer stellten Dienstpläne auf, jeder bekam etwas zu tun: Die Frauen arbeiteten in der Gemeinschaftswaschküche, wuschen Wäsche, wrangen sie aus, hängten sie auf; die jungen Männer gaben den Kindern Unterricht, andere kümmerten sich um die Küchen und die Gemeinschaftstoiletten. Die Mädchen dekorierten die düsteren Verschläge mit bunten Tüchern, Freiwillige schrubbten die Wände und Böden, um den hartnäckig daran haftenden Dunggeruch loszuwerden.
    Joeys Angebot, in einer der Putzkolonnen zu helfen, wurde mit ausgesucht höflichen Worten abgelehnt. Lächelnd und unter Verbeugungen erklärten sie ihm einer nach dem anderen, es gebe bereits genug Helfer … es sei wirklich sehr freundlich von ihm, vielleicht ein andermal oder wenn die Schicht wechsle …
    Sie trauten ihm nicht.
    »Kannst du es ihnen verübeln?«, sagte Ichir ō . »So wie du aussiehst? Du könntest ein Spion der Regierung sein.«
    Einige Wochen später kam schließlich der Tag, an dem sie fertig waren: Alles blitzte vor Sauberkeit, die Viehboxen waren desinfiziert und in freundlichen Farben gestrichen, für die Kinder gab es improvisierte Klassenzimmer, und es wurde täglich eine von Hand geschriebene Zeitung mit den neuesten Nachrichten herausgegeben – auch wenn es natürlich keine Nachrichten im eigentlichen Sinn gab.
    In einem gemeinsamen Willensakt hatten die Lagerbewohner ein Dorf innerhalb einer stählernen Höhle geschaffen.
    Am Tag darauf wurde ihnen verkündet, das Umsiedlungslager sei jetzt fertig, es war an der Zeit für die Deportation.

Kapitel 34
    ALS SICH KEINE weiteren Leute mehr in die Waggons quetschen ließen, als selbst in den Gängen kein Zentimeter mehr frei war, öffneten die bewaffneten Wachleute für die restlichen »Passagiere« einen Gepäckwagen. Zusammen mit anderen kletterte Joey hinein und suchte für sich und seine Tasche einen Platz.
    Er wusste, dass man Vieh auf diese Weise transportierte. Für die Tiere endete die Fahrt im Schlachthof; die zusammengewürfelte Fracht dieses Zugs und die ähnlicher Züge hatten keine Ahnung, wo ihre Fahrt enden würde; man hatte sie im Ungewissen gelassen, niemand hatte es für nötig befunden, den Leuten zu sagen, was sie erwartete, abgesehen von dem einen, inzwischen vertrauten Wort: Lager.
    Solche Gedanken waren nicht dazu angetan, die Fahrt angenehmer zu machen. Und in einen fensterlosen Raum eingesperrt zu sein war eine äußerst unangenehme Art zu reisen.
    Schulter an Schulter mit den anderen Männern, den Rücken an die Wand gelehnt, saß Joey im Schneidersitz auf dem Boden, wurde durchgerüttelt, atmete die abgestandene Luft ein, die mit jeder verstreichenden Stunde stickiger wurde. Die vielen anderen waren vorne im Zug zusammengepfercht, in Abteilen, deren Fenster man geschwärzt hatte, um zu verhindern, dass die Passagiere der vorüberziehenden Landschaft irgendwelche gefährlichen Informationen entnahmen oder auf der Lauer liegenden feindlichen Agenten Zeichen gaben.
    Mit jeder Drehung brachten die Räder ausgemusterter, klappriger Eisenbahnwaggons hunderttausend Menschen von der Westküste durch eine ungesehene Landschaft näher zu hastig errichteten Lagern in irgendeiner trostlosen Gegend des Landes, erzeugten mit ihrem Rattern einen metallischen Rhythmus, der in diesem speziellen Zug in Joeys Kopf widerhallte. Ichir ō neben ihm griff ihn auf und improvisierte zur Melodie von Chattanooga Choo Choo einen eigenen Text :
    »Hey, Junge, ist das der Zug nach Chattanooga?
    Nein, Sir, nicht dieser Zug, nee, nee!
    Dieser Zug fährt nach Utah oder nach Wyoming
    oder vielleicht auch Idaho. Wie wär’s mit Nevada? Könnt
    auch Kalifornien sein, Arizona. Vielleicht Colorado,
    Arkansas, irgend so ’n verdammtes Lager irgendwo!«
    Durch

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