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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Langley
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einen Riss in der Zugwand konnten sie einen verlockenden Blick auf die vorbeisausende Landschaft werfen, hin und wieder blitzte es in der Dunkelheit gleißend hell auf. Die Stunden vergingen. Der Zug ratterte weiter.
    Auf die gleiche Weise war sein Vater gereist, als er zehn Jahre zuvor mit den Kriegsveteranen nach Washington D. C. gezogen war. Aber das Erleben hing stark von der Stimmung ab: Joey erinnerte sich an Bens Briefe an Nancy, das Bild, das er darin von den Männern zeichnete, ihrer guten Laune, den Hoffnungen, die sie auf diese Reise setzten, wie sie in ihren Waggons durchgeschüttelt wurden, sich alte Soldatenwitze erzählten, hin und wieder einen Schluck Whiskey miteinander teilten – was zur Zeit der Prohibition als Gesetzesverstoß galt – und alte Lieder sangen, Soldatenlieder, aber auch einen Song, den Joey vor Jahren die Landstreicher hatte singen hören, die am Haus seiner Großeltern vorbeigezogen waren. Ein Song, den er damals wegen des Refrains mit den Sandwiches, die auf Bäumen wuchsen, lustig gefunden hatte, aber jetzt mit anderen Augen sah, als herzzerreißende Vorstellung eines armen Schluckers von einem Ort, an dem es alles im Überfluss gab. The Big Rock Candy Mountain beschrieb auf seine Art ein Traumland, das Schlaraffenland.
    Die Männer, mit denen Ben unterwegs gewesen war, waren laut, schmutzig, zerlumpt und voller Zuversicht, sie waren entschlossen, der Regierung die Stirn zu bieten, ihre Rechte einzufordern.
    Rings um Joey, im Dämmerlicht des Waggons kaum zu erkennen, schaukelten seine Reisegenossen im Rhythmus der Räder hin und her. Im Auffanglager hatte man sie noch euphemistisch als Evakuierte bezeichnet. Jetzt, auf dem Weg ins Lager, waren sie Gefangene. Sie saßen zusammengekauert da; die Ellbogen an sich gepresst, versuchten sie, sich möglichst klein zu machen, um ihre Nachbarn nicht durch irgendeine Form von Körperkontakt in Verlegenheit zu bringen. Niemand lümmelte herum oder streckte die Beine aus; die Älteren versuchten, ihre Kleider vor dem Dreck auf dem Boden zu schützen, indem sie sich sorgfältig Papierfetzen unterlegten wie Spitzendeckchen unter eine Torte. Sie machten keinen Lärm, und ganz gewiss wäre niemand auf die Idee gekommen, Alkohol zu trinken. Die Stimmung war gedrückt. Nicht weit von Joey entfernt weinte ein alter Mann still vor sich hin, beschämt, gedemütigt: Er hatte sich eingenässt. Sie hatten kein Verbrechen begangen, dennoch waren sie auf dem Weg in eine Art Gefängnis, und sie wussten, dass sie keinerlei Rechte mehr hatten.
    Der elfenbeinfarbene Umschlag mit den vielen bunten Briefmarken in Joeys Tasche war inzwischen ganz abgegriffen. Er zog ihn heraus und warf einen Blick auf das Foto. Cho-Cho sah finster drein, streng. Er schloss die Augen und versuchte, diese steif wirkende Frau durch das Bild einer jüngeren, sanfteren zu ersetzen. Im Dämmerlicht versuchte er sich vorzustellen, wie sich der Mund seiner Mutter zu einem Lächeln verzog.
    Die Sonne stand hoch am Himmel, in wenigen Stunden würde sie wieder hinter dem Horizont versinken. Von Zeit zu Zeit hielt der Zug, das Rattern der Räder verstummte. Wenn Joey durch den Spalt in der Wand spähte, stellte er jedes Mal fest, dass sie in einer gottverlassenen Landschaft mit ein paar verdorrten Büschen standen, die nicht einmal Schatten warfen. Dann setzte sich der Zug ruckelnd und unter gewaltigem Ächzen wieder in Bewegung und schaukelte sie pfeifend und dampfend weiter.
    Als er dieses Mal stehen blieb, vernahmen sie statt der Stille laute Stimmen und Hundegebell. Sie waren in Tule Lake angekommen.
    Als sie den Namen zum ersten Mal hörten und lernten, ihn richtig auszusprechen – Tulie Lake –, hatten sie nicht viel damit verbunden. Ein See. Würde es dort Bäume geben, Vogelgezwitscher, Fische? Oder lag Tule Lake in einer Stadt, die ähnlich war wie Chicago, mit modernen Wohnblocks und Straßenlärm?
    Steif von der langen Fahrt, kletterten sie aus den Waggons, angetrieben von Soldaten mit Gewehren und Bajonetten. Auch die anderen weiter vorne stiegen aus und blinzelten in die Sonne. Die Gänge des Zugs standen unter Wasser, und es stank nach Urin, die Klos waren übergelaufen, hatten Schuhe und das in den Gängen aufgestapelte Gepäck durchweicht. Mütter drückten ihre Säuglinge an die Brust. Ein Grüppchen Kinder, ohne Begleitung eines Erwachsenen unterwegs, alle gleich angezogen und mit ausdruckslosen Gesichtern, hielt einander an den kleinen Händen und bewegte sich dicht

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